Was war Ihr Tipp für den Goldenen Löwen der Venedig-Biennale? Nach Studium des Programms stand bei vielen der australische Pavillon weit oben, der nun auch gewonnen hat. Mit Archie Moore war das Land zum zweiten Mal indigen repräsentiert. Da war es – Achtung: Sarkasmus – sozusagen höchste Zeit. Oder nehmen wir die Berlinale 2024: Der Goldene Bär für Dahomey von Mati Diop war auch nicht die ganz große Überraschung. Es geht im Film um koloniale Raubkunst – und der Jury saß mit Lupita Nyong’o die erste Frau mit afrikanischem Hintergrund vor.
Nun spricht nichts dagegen, die weiterhin untererzählte Kolonialgeschichte aufzurufen, wie Moore, Diop und andere es auf je ihre Weise tun – auch im Kunstfeld und zumal auf der
chte aufzurufen, wie Moore, Diop und andere es auf je ihre Weise tun – auch im Kunstfeld und zumal auf der seltsamen Kunst-WM in der Lagune. Und über Kunstpreise ist schlecht streiten: „Objektive Kriterien“ gibt es nicht; Wertungen betten sich in ein sozial komplexes Ondit. Dennoch hat die Erwartbarkeit solcher Entscheidungen einen Beigeschmack: Man mag die Tendenz als politischer Mensch ja begrüßen – aber borgt sich Kunst hier nicht Relevanz?Dass sich das Kunstfeld rapide „politisiert“, ist jedenfalls kein Gerücht aus der Grummelecke. Nicht nur Rankings zeigen das: „Aktivismus“, so etwa die Kultursoziologin Marie Rosenkranz, ist „im letzten Jahrzehnt eindrucksvoll in den künstlerischen Mainstream aufgestiegen.“Darf man das kritisieren? Abgesehen davon, dass Historikerinnen oder Soziologen von der Art und Weise, wie Polit-Kunst ihre Themen anfasst, nicht immer fachlich begeistert sind, gibt es ein konservatives und ein progressives Argument. Ersteres hängt alten Plattitüden von der Kunst als selbstgenügsamem Reich des Wahren und Schönen nach. Das ignoriert, dass es „L’art pour l’art“ so nie gegeben hat. Denn bei der Frage, was „schön“ ist und was „wahr“, geht es ja nicht um zeitlose ästhetische Horizonte – sondern um symbolische Hierarchien, die Kunst abbildet wie produziert.Wer hingegen davon ausgeht, dass Kunst immer mit politisch-sozialen Verhältnissen zu tun hat und verlangt, dass sie damit auch umgehe, akzeptiert nicht nur eine Ziel-Dimension jenseits der Kunst selbst, sondern muss diese auch diskutieren. Was aber ist das für eine Praxis, in der – so Rosenkranz – die „Künstler*innenfigur“ nicht nur „zunehmend mit der Figur der Aktivist*in“ verschmilzt, sondern auch mit der „Theoretiker*in“? Wie denkt eine Kunst das Politische, die ihr Ziel gar nicht zuletzt im Formulieren hegemonietheoretischer Vokabulare sieht? Strebt eine bis nach Wolkenkuckucksheim mit „Theorie“ gepimpte Polit-Kunst nur nach dem Thron der geisteswissenschaftlichen „Leitdisziplin“, der erst von der Philosophie an die Soziologie überging und nunmehr vakant ist? Dergestalt zöge sie nur aus einem Elfenbeinturm in den nächsten. Wenn schon Eingreif-Kunst, mag man da sagen, dann à la Dada. Denn das spricht zu fast allen.Vor allem aber muss sich, wer das Kunstfeld politisch liest, mittlerweile fragen, ob eine explizit politisierende Kunst mit Interventionsanspruch heutzutage überhaupt politisch richtig ist. Sind die Gräben in unserer Kulturkampf-Welt nicht ohnehin schon tief? Muss der Goldene Löwe wirklich noch mitbrüllen? Längst hat sich das Kämpfen vom Umkämpften gelöst. Zwist und Hader sind quasi Selbstzweck. Würde da nicht eher eine Kunst gebraucht, die der Gesellschaft Raum zum Atmen gibt, indem sie das Politische vordergründig herunterfährt? Eine Kunst, die sich als L’art pour l’art ausgibt, obwohl sie es besser weiß? Das wäre ein Bruch mit dem aktivistischen Modus des Parteiischen hin zu einer Dialektik, die das Ganze denkt.In Venedig gab es eine Möglichkeit, mit dem Löwen in eine solche Richtung zu zielen: der wohlbewachte Israel-Pavillon. Ruth Patir lässt ihre Installation zu Fertilitätskult und Bevölkerungspolitik geschlossen, bis die Waffen in Gaza schweigen und die Geiseln befreit sind. Was aber war heuer so preiswürdig wie dieses Bekenntnis zur politischen Machtlosigkeit einer politisierenden Ausstellung? Der Knall jedenfalls, den ein Löwe für den vorab von Boykottaufrufen begleiteten Beitrag ausgelöst hätte, wäre womöglich etwas ganz anderes gewesen: ein Startschuss in eine post-politisierende Ära des Kunstfelds.