Abbild der britischen Misere

EU Was gibst du mir, wenn ich so abstimme, wie du möchtest? Beim Brüsseler Gipfel wird es durch das Brexit-Chaos zu einem Kuhhandel kommen
Ausgabe 12/2019
Wäre Macron ein Gaullist, hätte er den Brexit zum Entsetzen Deutschlands längst für die eigenen Interessen genutzt
Wäre Macron ein Gaullist, hätte er den Brexit zum Entsetzen Deutschlands längst für die eigenen Interessen genutzt

Foto: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Wäre Emmanuel Macron ein lupenreiner Gaullist, würde er die Briten beim EU-Gipfel dieser Tage aus der EU werfen. Er würde sich – zum Entsetzen Deutschlands – gegen jede Verlängerung der Austrittsfrist sperren. Man dürfe, würde er sagen, den Briten nicht länger erlauben, den ganzen Betrieb aufzuhalten. Europa habe Großes vor, deshalb sei es besser, sich der notorischen Bremser so rasch wie möglich zu entledigen. Schon Macrons Vorgänger Charles de Gaulle wollte die Briten nicht dabeihaben. 1961 und 1967 verhinderte er per Veto Großbritanniens EU-Beitritt. Die Insel, sagte er, passe nicht zur kontinentalen Europäischen Union. In Wahrheit leitete de Gaulle die Überlegung, dass Frankreichs Größe in Europa besser zur Geltung käme, wenn die Briten nichts mitzureden hätten.

Macron ist aber kein lupenreiner Gaullist. Er will sich – so kurz vor den Europawahlen – nicht ohne Not unbeliebt machen. Das Veto gegen eine Fristverlängerung würde er lieber der italienischen Regierung überlassen. Deren starker Mann Matteo Salvini hätte sicher kein Problem damit, die anderen EU-Mitglieder vor den Kopf zu stoßen. Aber auch Salvini ist clever genug, um zu wissen, wie man das Brexit-Chaos für die eigenen Interessen nutzbar machen kann. Beim Brüsseler Gipfel wird es deshalb hinter den Kulissen zu einer dichten Abfolge von Kuhhandel-Gesprächen kommen, die alle von der Frage beherrscht werden: Was gibst du mir, wenn ich so abstimme, wie du es möchtest?

Denn in der Europäischen Union geht es zu wie in Großbritannien. Brüssel ist ein getreues Abbild der britischen Misere. Da es keinen Plan für die gemeinsame Zukunft gibt, zählt allein, wer wen mit welchen Lockangeboten in letzter Minute über den Tisch ziehen kann. Der polnische Ratspräsident Donald Tusk etwa setzt sich für eine möglichst lange Brexit-Verschiebung ein, um den rund 800.000 in Großbritannien lebenden Polen das Leben zu erleichtern und seiner liberalen „Bürgerplattform“ eine gute Ausgangsposition für die polnischen Wahlen im Herbst zu sichern. Auch Deutschland, das in Großbritannien immer einen verlässlichen Freihandelsverbündeten gegen Frankreichs protektionistische Neigungen sah, möchte die Briten so lange wie möglich in der EU halten. Emmanuel Macron kann also eine ganze Menge verlangen für die Zustimmung zu einer großzügigen Fristverlängerung. Am Ende des Kuhhandels wird ein fauler Kompromiss stehen, der alle Beteiligten das Gesicht wahren lässt. Auch an Lobhudeleien, dass sich die Union nicht auseinanderdividieren lasse, wird es nicht fehlen. Doch das ist weiße Salbe, die sich die EU auf ihre Wunden streicht.

Europa hat, wie Großbritannien, keine Idee, wie es weitergehen soll. Die EU fährt genauso auf Sicht wie die britische Regierung. Exemplarisch zeigte sich das in den Brexit-Verhandlungen des EU-Unterhändlers Michel Barnier, eines gewieften Neogaullisten. Dessen Kardinalfehler war es, ausschließlich die Austrittsmodalitäten für Großbritannien zu verhandeln und sich erst hinterher zu fragen, wie die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU gestaltet werden sollen. Diese verkehrte Reihenfolge ließ nicht nur auf Seiten Großbritanniens, sondern auch auf Seiten der EU die entscheidende Frage unter den Tisch fallen: was die Briten denn eigentlich wollen.

Und so bleibt diesseits wie jenseits des Ärmelkanals nur das Weiterwursteln bis zum nächsten Termin.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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