Julian Assange, Carl von Ossietzky und das Wikileaks der Weimarer Republik
Auslieferung an die USA Seit 2010 verfolgt, seit 2019 in Haft: Wikileaks-Gründer Julian Assange steht vor einer finalen Gerichtsanhörung in London. Vor bald hundert Jahren gab es in Deutschland einen vergleichbaren Fall
Nicht nur hier am Piccadilly Circus in London, sondern weltweit kämpft eine Solidaritätsbewegung für die Freiheit Julian Assanges.
Foto: Velar Grant/ZumaPress/dpa
Neun Jahre hat es gedauert, bis sich die westliche Öffentlichkeit aufraffen konnte, die Freilassung des politischen Gefangenen Julian Assange laut und deutlich zu fordern. Erst 2019, nach der Festnahme des Wikileaks-Gründers in der ecuadorianischen Botschaft in London und dem unmittelbar danach gestellten Auslieferungsantrag der US-Behörden, wachte die Zivilgesellschaft auf.
Bis dahin war sie unschlüssig, ja regelrecht sediert durch die von der schwedischen Justiz erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange. Neun Jahre lang wurden die Vorwürfe gezielt breitgetreten, ohne dass Schweden jemals Anklage erhob. Eine ungewöhnliche Zeitspanne für ein solches Delikt. Erst nachdem die britische Polizei Julian Assange verhaftet und ins Londoner Hochsicherhe
chsicherheitsgefängnis Belmarsh gebracht hatte, wo ihn die US-Verfolger unter sicherer Kontrolle wussten, stellte die schwedische Staatsanwaltschaft ihre „Voruntersuchungen“ ein. Es war nun nicht mehr nötig, die Vorwürfe aufrechtzuerhalten.Von Annalena Baerbock bis Karl LauterbachSeither versuchen die Anwälte Assanges mit allen juristischen Mitteln, eine Auslieferung zu verhindern, denn in den USA drohen ihm nicht nur extreme Haftbedingungen, sondern auch eine Verurteilung nach dem Spionagegesetz von 1917, und dies bedeutet – zumindest theoretisch – bis zu 175 Jahre Haft. In allen Instanzen und Berufungsinstanzen sind die Anwälte bislang gescheitert, der Auslieferungsbefehl des Innenministeriums liegt vor, nun wird der High Court eine finale Entscheidung fällen. Zwar kann Assange bei einem negativen Ausgang noch Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einlegen, aber es ist durchaus möglich, dass die britischen Behörden einfach Fakten schaffen und ihn unmittelbar nach der Entscheidung in ein Flugzeug setzen und in die USA ausfliegen.Um das zu verhindern, hat sich in den vergangenen vier Jahren eine breite Solidaritätsbewegung entwickelt. Weltweit wird für Assange protestiert, werden Petitionen eingereicht, Parlamentsbeschlüsse gefasst und Offene Briefe geschrieben. Assange wird mit Preisen und Ehrungen überhäuft. Die Internationale Journalisten-Föderation, Amnesty International, Human Rights Watch, mehrere PEN-Clubs, Reporter ohne Grenzen und das Netzwerk Recherche appellieren an ihre jeweiligen Regierungen, sich für Assange einzusetzen.16 US-Kongressabgeordnete, unter ihnen die linke Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez und die rechte Republikanerin Marjorie Taylor Greene, drängen US-Präsident Joe Biden zur sofortigen Einstellung des Strafverfahrens, die Parlamentarische Versammlung des Europarats fordert die 47 Mitgliedsstaaten zum Handeln auf, die Chefredakteure und Herausgeber von New York Times, Guardian, El Pais, Le Monde und Spiegel warnen vor der „Kriminalisierung journalistischer Arbeit“ und betrachten eine Verurteilung Assanges als „gefährlichen Präzedenzfall“. Assange habe als Chefredakteur und Herausgeber von Wikileaks nur das getan, was alle investigativen Journalisten als ihr verbrieftes Recht in allen Demokratien in Anspruch nehmen: unter Verschluss gehaltene Dokumente, die der Aufklärung der Bevölkerung dienen und daher von allgemeinem Interesse sind, zu veröffentlichen, auch wenn das manchen Regierungen nicht gefallen mag.Bundestag verurteilte die „psychologische Folter“In Deutschland sitzen vor allem die Abgeordneten der Linken der Regierung seit Jahren mit „Kleinen Anfragen“ im Nacken. Sie wollen wissen, was die Regierung konkret unternimmt, um eine Freilassung von Assange zu erwirken. Schließlich hätten fünf der heutigen Minister der rot-grün-gelben Regierung im Wahlkampf 2021 dessen sofortige Freilassung gefordert: die Grünen Annalena Baerbock, Robert Habeck, Cem Özdemir und Claudia Roth sowie Karl Lauterbach von der SPD. Die Fragesteller der Linken lassen auch nicht locker, wenn die Regierung ein ums andere Mal erklärt, sie werde sich „zu einem laufenden Verfahren“ nicht äußern. Sie vertraue auf ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren sowohl in Großbritannien als auch in den USA.Zwar haben der Petitionsausschuss und das Plenum des Bundestages bereits Mitte 2022 die „psychologische Folter“ verurteilt, der Assange in der Isolationshaft im Belmarsh-Gefängnis ausgesetzt sei, doch scheint die Bundesregierung daraus keinerlei Handlungsauftrag abzuleiten. Auch ein Offener Brief von Günter Wallraff und 80 weiteren Prominenten an Außenministerin Annalena Baerbock, sie möge sich – wie im Fall des inhaftierten russischen Dissidenten Alexei Nawalny – für ein Ende der politischen Verfolgung einsetzen, blieb ohne greifbares Ergebnis. „In Ihrem Einsatz für verfolgte Journalisten“, monierten die 80 Prominenten – darunter Volker Schlöndorff, Elke Heidenreich, Gerhart Baum und Claus Peymann – „darf es keine doppelten Standards geben. Es ist paradox, berechtigte Kritik an der Unterdrückung von Journalisten in Diktaturen zu üben, aber zu der Verfolgung von Assange durch die Führungsmacht des freien Westens zu schweigen.“Angesichts der Hartleibigkeit der Regierungen stellt sich freilich die Frage, ob die verspätet einsetzende Solidaritätsbewegung für Assange ausreicht, wenn gleichzeitig behauptet wird, es gehe um einen Präzedenzfall von außerordentlicher Tragweite. Die Zukunft der Pressefreiheit, ja der Demokratie stehe auf dem Spiel. Wäre angesichts dieser Dimension das bloße Schreiben von Offenen Briefen, das brave Appellieren und Fürbitten, das inständige Auffordern und Ermahnen nicht ein bisschen zahm? Müsste nicht viel größerer Druck ausgeübt werden?Anzeige wegen „Verrats“Es gab in Deutschland schon einmal einen vergleichbaren Fall. Das ist bald hundert Jahre her, aber es war, wie bei Assange, ein Präzedenzfall von außerordentlicher Tragweite, und die Pressefreiheit und die Demokratie gingen tatsächlich danach zu Bruch. Der damals verurteilte Journalist hatte diese Entwicklung prophetisch vorausgesehen. Er hieß Carl von Ossietzky und leitete als Nachfolger Kurt Tucholskys ab 1927 die linksrepublikanische Wochenzeitung Die Weltbühne. Die war, wenn man so will, das Wikileaks der Weimarer Republik.Das unbeugsame Blatt hatte bereits mehrfach geheime Aufrüstungspläne und andere Machenschaften innerhalb der Reichswehr aufgedeckt und galt daher vielen Republikhassern als „Verräterorgan“. Am 12. März 1929 druckte die Weltbühne einen Artikel des Flugzeugexperten Walter Kreiser unter der Überschrift „Windiges aus der deutschen Luftfahrt“. Es ging darin um lukrative Geschäfte hoher Militärs, die ihre Einkäufe als sicherheitspolitisch notwendige Staatsausgaben tarnten, kurz: Es ging um die Verschwendung von Steuergeldern.Der Reichswehrführung platzte ob dieser peinlichen Enthüllung der Kragen, man erstattete Anzeige wegen des „Verrats militärischer Geheimnisse“. Nach langem Hin und Her – es waren, wie im Fall Assange, eine ganze Reihe renommierter Rechtsanwälte beteiligt – fand am 23. November 1931 der Prozess statt. Verhandelt wurde vor dem IV. Strafsenat des Leipziger Reichsgerichts, der damals für Republikschutz und Hochverratssachen zuständig war. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen.Die Anwälte waren fassungslosVerurteilt wurden Kreiser und Ossietzky zu eineinhalb Jahren Gefängnis. Wegen Spionage! Angeblich hatten sie „vorsätzlich Nachrichten, deren Geheimhaltung im Interesse der Landesverteidigung erforderlich ist, an eine ausländische Regierung“ gelangen lassen „und dadurch die Sicherheit des Reichs gefährdet“. So stand es in einem alten Strafgesetz aus dem Jahr 1914.Ein absurder Vorwurf, denn Spione breiten kaum öffentlich aus, was sie herausgefunden haben. Auch die Urteilsbegründung des Reichsgerichts durfte nicht veröffentlicht werden und die Verurteilten wurden der Schweigepflicht unterworfen. Ossietzkys Anwälte waren fassungslos angesichts der eklatanten Rechtsbeugung, doch der Weltbühne-Chefredakteur meinte nur trocken: Dieser Ausgang des Verfahrens sei zu erwarten gewesen. Der IV. Strafsenat, ursprünglich eingerichtet zum Schutz der Republik, habe im Verlauf seines Wirkens fast nur noch drastische Urteile gegen Linke gefällt, während republikfeindliche Nationalsozialisten stets auf Milde hoffen durften.Auch Julian Assange sieht die Dinge, wie Ossietzky, illusionslos. Er würde in den USA, egal ob unter einem Präsidenten Donald Trump oder unter einem Präsidenten Joe Biden, vor einem ähnlichen Strafsenat landen, einer Art „Standgericht“, das nicht öffentlich tagt und mit dem Verweis auf den erforderlichen Staatsschutz ungehindert dubioses Beweismaterial verwerten kann. Auch wäre, wie im Fall Ossietzky, ein Spionagegesetz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs die Entscheidungsgrundlage, ein Gesetz, das sich stets gegen Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten und Pazifisten richtete, etwa gegen den Whistleblower Daniel Ellsberg, den Sozialisten Eugene Debs oder den deutsch-amerikanischen Journalisten Victor Luitpold Berger, der 1910 als erster Sozialist ein Mandat im US-Kongress erobert hatte.Was Carl von Ossietzky Ende 1931 schriebOssietzky schrieb am 1. Dezember 1931 über seinen Prozess: „Findet das Weltbühnen-Urteil Nachfolge, so wird der Rest der Pressefreiheit in Deutschland der schnellen Vernichtung ausgesetzt sein. Wenn die Prüfung eines dunklen Etatpostens als zuchthauswürdiges Verbrechen bewertet werden kann, dann ist die akute Gefahr vorhanden, dass jede kritische Äußerung und schließlich auch das gesamte Nachrichtenwesen unter die Tyrannei des Spionageparagraphen gerät.“ Er plädierte deshalb für die Bildung einer politischen Einheitsfront gegen die Systemveränderer von rechts.Die kurzzeitig wachgerüttelte SPD-Fraktion stellte daraufhin sechs kluge Fragen an die Reichsregierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning, zum Beispiel, ob die Reichsregierung bereit sei, „alle Schritte zu tun, um die Vollstreckung dieses Urteils des Reichsgerichts zu verhindern“. Das war’s auch schon. Verhindert haben die klugen Fragen nichts.Auch im Fall Assange werden Kleine Anfragen und Bittgesuche nichts verhindern. Parteien, Medien und Zivilgesellschaft müssen sich schon ein bisschen mehr einfallen lassen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.