„Schande über Sie!"

Gedenktag Die Reaktion auf einen kleinen Tweet der linken Politikerin Mathilde Panot zeigt: Auch Gedenktage sind Teil der Verwertungsmaschinerie in der „Société du spectacle“. Zuwiderhandlungen werden skandalisiert – zum Nutzen der Regierenden.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mathilde Panot ist Vorsitzende der französischen Linksfraktion La France Insoumise (LFI) in der Nationalversammlung
Mathilde Panot ist Vorsitzende der französischen Linksfraktion La France Insoumise (LFI) in der Nationalversammlung

Foto: Christophe Archambault/AFP/Getty Images

Mathilde Panot ist eine couragierte Politikerin. Eine erfahrene zudem. Seit 5 Jahren ist die 33-Jährige Abgeordnete, seit 2 Jahren Präsidentin der parlamentarischen Gruppe der „France insoumise“. Sie sitzt in wichtigen Kommissionen und gehört zu den „Gesichtern“ der „Nouvelle Union populaire“. „Panot“, so ihr Mentor Jean-Luc Mélenchon, „fürchtet sich vor nichts und niemand.“ Und selbstverständlich benutzt sie das Influencer-Instrument Twitter. Besonders an Tagen wie dem „Nationalen Gedenktag für die Opfer der rassistischen und antisemitischen Verbrechen des französischen Staates und der Ehrung der 'Gerechten' Frankreichs“, dessen gestelzt wirkender Name auf die Schwierigkeit seines Zustandekommens im Jahre 1993 verweist. Panot tweetete also am 16. Juli:

„Vor 80 Jahren organisierten die Kollaborationisten des Vichy-Regimes die „Rafle du Vel' d'Hiv'“(wörtlich: "Razzia des Winter-Velodroms"). Wir dürfen diese Verbrechen nicht vergessen, heute noch weniger als jemals zuvor, angesichts eines Präsidenten, der Pétain Ehre erweist und 89-Abgeordneten des RN!“

Es geht um das Gedenken an die in Paris und Umgebung lebenden Juden, die 1942 von der französischen Polizei festgenommen, ins Winter-Velodrom gesperrt und über das Lager Drancy nach Auschwitz deportiert wurden. Der Tweet Panots entspricht eigentlich dem, was traditionelle Linke an solchen Gedenktagen zu schreiben pflegen (inklusive Ausrufezeichen): Wir dürfen die faschistischen Verbrechen nicht vergessen, damit sie sich nicht wiederholen. Denn der Schoß ist fruchtbar noch. Wer etwas tiefer liest, mag im Tweet noch eine gewisse Verbitterung finden. Schließlich hatte die Macronie im zweiten Wahlgang und bei Verteilung der Funktionen in der Nationalversammlung die France insoumise gegen den Rassemblement national ausgespielt.

Ein Sturm der Entrüstung

Umso überraschender ist die Reaktion auf diesen eher normalen Text. Panot stand plötzlich in einem einem Sturm von über 10.000 Kommentaren. „Ungeheuerlich“ sei der Tweet, „unwürdig“, „beklagenswert“, „vulgär“, „mittelmäßig“, „infam“, „widerwärtig“, "Schande über Sie!". Der Minister Clément Beaune forderte Panot gar auf, „Frankreich um Entschuldigung zu bitten“. Aurore Bergé, Präsidentin der Parlamentsgruppe der REM (die fortan „Renaissance“ heißt), sprach bei BFMTV tatsächlich von einer „Negation des Schreckens der Shoah". Implizit forderte sie damit die Anwendung des „Gayssot-Gesetzes“ von 1990 (der Negationismus ist ein strafbares Delikt).

Viele Kritiker, auch politische Freunde wie die Senatorin Esther Benbassa, vermissten in Panots Tweet die Erwähnung der Identität der Opfer. Der Begriff Antisemitismus sei beim Gedenken unabdingbar. Andere vermuteten gar latente Motive für diese „Invisibilisierung“. Ist nicht gerade die Linke anfällig für Antisemitismus? Hat nicht Jeremy Corbyn, für die veröffentlichte Meinung noch immer der repräsentative Antisemit, die Abgeordneten Obono und Simonnet im Wahlkampf unterstützt? Vom angeblichen Antisemitismus in der France insoumise sprachen vor allem… die Vertreter des RN. Mit sichtlicher Genugtuung.

Und wie kann man nur Macron und den RN gleichsetzen? Pétain, so wussten viele Stürmer, war wirklich ein großer Soldat im Ersten Weltkrieg. Macron habe also recht. Der bekannten Historikerin Mathilde Larrère, die es wagte, fragwürdige Aussagen des Präsidenten zu Pétain zu zitieren, sprach man einfach die wissenschaftliche Kompetenz ab. Sie wüsste noch nicht einmal zwischen Pétain, dem „großen Soldaten“ des Ersten Weltkriegs ,und Pétain, dem späteren Staatschef, zu unterscheiden.

Dass die bürgerlichen Medien sich auf ihre bekannte Art der Polemik annahmen, überraschte nicht mehr. Im Privatsender LCI wurde der insoumise Abgeordneten Manuel Bompard einer Art peinlichem Verhör unterzogen: „Gibt es in der France insoumise eine Affaire Panot?“, „Manuel Bompard, erscheint Ihnen nicht auch das, was Mathilde Panot über Monsieur le Président gesagt hat, als sehr fragwürdig“ oder, unter Hinweis auf den bösen Corbyn: „Gibt es vielleicht ein Antisemitismus-Problem in der France insoumise?“ Angesichts solch possenhafter Inquisition hatte schließlich selbst die Klimakatastrophe ein Einsehen. Die großen Waldbrände bewahrten Panot und die Insoumis vor der symbolischen Schlachtung. Vorerst.

Man könnte das alles mit einem Kopfschütteln quittieren. Dieser – wie die Wortwahl der Twitter-Stürmer zeigt - offensichtlich gut orchestrierte Sturm spiegelt natürlich die politische Situation wider. Nachdem die Macronie ihre absolute Parlamentsmehrheit verloren hat, müssen sich die Parteien neu positionieren, Macron muss fluide Koalitionen finden. Und es zeigt sich, dass die politischen Gemeinsamkeiten zwischen der Macronie und dem RN doch recht groß sind.

Macron selbst muss wieder einmal größere Skandale vergessen machen (McKinsey, Uber, Interessenkonflikte). Die Krise spitzt sich weiter zu (Corona, Krieg, Inflation, Energie, Klima). Da wird auch die kleinste Gelegenheit einer Diversion am Schopfe gepackt. Aber wieso bietet dieser kleine Tweet überhaupt eine solche Gelegenheit? Was ist sein Skandalpotential? Dass Panot mit den „Verbrechen“ die Verbrechen an den 1942 in Paris lebenden Juden meint, ist doch evident. Jedes Schulkind in Frankreich weiß, was die „Rafle du Vél-d'Hiv“ war. Warum ist die Nicht-Erwähnung des Antisemitismus in einem kurzen Tweet ein Tabubruch? Ist es nicht gerade die Funktion eines Gedenktages, die moralische Pflicht zu trauern mit der politischen Pflicht zu verbinden, eine Wiederholung des Geschehens zu verhindern, also wirklich „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“? Es geht also wieder einmal um das schwierige Verhältnis von „faktueller“ und „memorieller“ Geschichte.

Geschichte faktuell

Nach Serge Klarsfeld erfolgte die Deportation der Juden aus Frankreich in vier Phasen: in der ersten Jahreshälfte 1942 (7116 Deportierte), vom Juli bis September 1942 (25974), dann bis Juni 1943 (17784) und schließlich bis zum August 1944 (23307). Bei allen Deportationen kollaborierten französische Ordnungskräfte unter dem Befehl und aktiver Beteiligung der deutschen Besatzungsmacht. Allein bei der „Rafle du Vel' d'Hiv'“ waren nur französische Polizisten tätig. Wie ist dies zu erklären? Im Sommer 1942 hatte sich die Politik der Besatzer verschärft. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion herrschte mit zunehmender Kriegsdauer ein ungeheurer Bedarf an Material und Arbeitskräften. Die Besatzer forderten von der Vichy-Regierung 250.000 französische Facharbeiter. Der neue Regierungschef Laval verkündete in einer Rede vom 22. Juni 1942 das System „Relève“ (Freilassung eines französischen Kriegsgefangenen gegen Verschickung von drei Facharbeitern nach Deutschland). Am selben Tag schrieb er an Ribbentrop, die „Relève“ sei ein Beitrag zum deutschen Krieg gegen den Bolschewismus. Gleichzeitig wurde die „Endlösung“ beschleunigt. Für die Deportation der Juden standen 10 bis 20 Züge der französischen Eisenbahn bereit. Zunächst sollten arbeitsfähige Männer und Frauen deportiert werden. Die Kinder sollten ihnen ab August 1942 nach Auschwitz folgen. Theodor Dannecker, Chef des „Judenreferats" der SD in Paris, setzte die Zahl von 40.000 Festzunehmenden (davon 10.000 aus der „freien Zone“) fest.

Pierre Laval und der Generalsekretär der Polizei, René Bousquet, erwiesen sich wieder als äußerst kooperativ. Bousquet bot seine Leute geradezu an. An den SS-General Oberg schrieb er:

Sie kennen die französische Polizei. Sie hat zweifellos ihre Fehler, aber auch ihre Qualitäten...Sie ist zu den größten Diensten fähig. Das konnten Sie schon oft feststellen. Ich bin sicher, dass sie noch mehr leisten kann.

In der Tat hatten Feldgendarmerie, deutsche Wehrmacht und französische Gendarmen bei der Unterdrückung der Bergarbeiterstreiks im Norden, im Kampf gegen den „terroristischen Kommunismus“, bei der Einrichtung von Lagern hervorragend kollaboriert. Die Internierungslager waren nach den Worten des Historikers Arnaud Houte zum „Reservoir für Geiselerschießungen“ geworden. Bousquet garantierte den Deutschen, staatenlose Juden aus der „freien Zone“ zu „liefern“ und gab schließlich auch seine Vorbehalte gegen eine Großrazzia in Paris auf.

Anfang Juli 1942 begannen die Vorbereitungen: Erstellen der 27.391 Verhaftungsbefehle auf der Grundlage der Registrierungen Ende Mai 1942 (die Pariser Juden waren gezwungen worden, den gelben Stern auf den Kommissariaten abholen), Mobilisierung von über 4.000 Polizisten, Bereitstellung der Logistik etc. Die Anweisungen gingen bis ins makabre Détail:

Nach der Leerung der Wohnung muss gesichert sein, dass die Zähler von Gas, Strom undW asser abgestellt sind. Die Wasserhähne sind zu schließen. Tiere und Schlüssel sind bei der Concierge abzugeben.

Am frühen Morgen des 16. Juli standen sie pünktlich vor den Türen der zu Verhaftenden. „Police française. Ouvrez!“ Die Bilanz der Aktion: 12.884 Festgenommene, darunter 3.031 Männer, 5.802 Frauen und 4.051 Kinder (unter 16 Jahren). Das waren viel weniger als beabsichtigt. Gerüchte bevorstehender Festnahmen und kommunistische Flugblätter hatten vor allem jüngere Männer zur rechtzeitigen Flucht veranlasst. Ein Flugblatt stammte von der Hilfsorganisation „Solidarité“. In jiddischer Sprache verfasst, richtete es sich vor allem an die polnischen Juden. Es gab auch Handlungsanweisungen (die Kinder verstecken, den Frauen helfen, Sabotageakte ausführen).

Der Historiker Laurent Joly weist auf Quellenbasis nach, dass das Schicksal der Juden auch vom Ermessensspielraum der Kommissare abhing. Manche scheinen (unter Zeitdruck?) die Operation abgebrochen zu haben, wenn die Tür nicht geöffnet wurde. Einige Polizisten zeigten eine gewisse Empathie. Sicherlich war der Antisemitismus in Polizei und Verwaltung verbreitet. Aber nicht alle Polizisten waren Überzeugungstäter. Dass zum ersten Mal in Frankreich bei einer antisemitischen Großrazzia auch Frauen und Kinder festgenommen wurden, bereitete – den Quellen zufolge - vielen Polizisten Probleme. Manche entlasteten sich mit einem „Geben Sie die Kinder den Nachbarn“. In Vincennes überließ ein Kommissar die in Frankreich geborenen Kinder nicht-festzunehmenden Verwandten. Allerdings holte er sich vorher bei der deutschen Kommandantur ein Plazet. Auch ein die Flucht ermöglichendes „Bereiten Sie sich vor. Wir kommen zurück.“ ist dokumentiert.

Nach einer ersten Selektion in so genannten „Centres primaires“ wurden Unverheiratete und Paare ohne Kinder direkt ins Lager von Drancy transportiert. Frauen mit Kindern und Familien wurden im Velodrom interniert. Nach 5 Tagen verbrachte man sie in die Lager Beaune-la-Rolande und Pithiviers. Dort wurden fast 3000 Kinder von ihren Eltern getrennt. Später wurden auch sie, wie zuvor ihre Eltern, nach Auschwitz deportiert. Im Velodrom fand übrigens 3 Wochen nach dem letzten Transport ein Spektakel zugunsten der sozialen Werke der Polizei statt. Ein Propagandafilm zeigt Pferdestaffeln, Märsche in historischen Uniformen und kräftige Turner mit faschistischem Gruß. Unter den begeisterten Gästen: Bousquet und Oberg.

Geschichte memoriell

Erst nach über 50 Jahren wurde die Kollaboration der französischen Verwaltung und der Polizei „aufgearbeitet“. Pierre Laval wurde zwar 1945 hingerichtet, aber René Bousquet musste nur gut 3 Jahre im Gefängnis verbringen. Die besonders eifrigen Kommissare der „Rafle du Vel d'Hiv“ hatten ihren Prozess, wurden aber in der Regel mangels Beweisen persönlicher Schuld freigesprochen. Fast keiner der Entscheider stand vor Gericht. Die Ermittlungen gegen René Bousquet zogen sich in die Länge (er wurde 1993 von einem Geistesgestörten getötet). Erst 1995 gedachte der Jacques Chirac als neuer Präsident der Großrazzia:

Vor 53 Jahren, am 16. Juli folgten 450 französische Polizisten und Gendarmen unter dem Befehl ihrer Chefs den Forderungen der Nazis. An diesem Tag wurden fast 10.000 Männer, Frauen und Kinder in der Hauptstadt und der Region von Paris zhu Hause festgenommen... Man sah grausame Szenen, zerrissene Familien, Mütter, die von ihren Kindern getrennt wurden, Alte – darunter Veteranen des Großen Krieges, die ihr Blut für Frankreich vergossen hatten -, die rücksichtslos in die Polizeibusse geworfen wurden.Was Frankreich, das Vaterland der Aufklärung und der Menschenrechte, an diesem Tag vollbrachte, ist irreparabel.

Auch wenn die Ansprache gravierende Fehler enthielt, repräsentierte sie eine Wende. Und die hatte aktuelleBezüge. 1994 war die vichystische Vergangenheit Mitterands und seine lange Freundschaft zu René Bousquet bekannt geworden. Der neue Präsident nutzte also die Gelegenheit der Distinktion, sowohl von den Sozialisten, als auch von den schon damals stärker werdenden Faschisten (Le Pen). Der als kommunistisch interpretierte Mythos der Résistance war erschüttert. Das französische Volk erschien nun als Nation von Mitläufern. Die „Epoche des Gedenkens“ (Henry Rousso) hatte begonnen. Und dessen innere Logik führte zur Identifikation mit den historischen Opfern von Kommunismus, Faschismus, weniger jedoch mit denen des Kolonialismus. Die extreme Rechte forderte ihrerseits „Gerechtigkeit“ für die Harkis und Algerienfranzosen.

Folgerichtig entwickelten die obligate Präsidentenreden zum Gedenken an die „Rafle“ihr „eigenes Genre mit dem Doppeleffekt von rhetorischer Übertreibung und historischer Ignoranz“ (Laurent Joly). In seiner Rede von 2012 erwähnt Hollande nicht ein einziges Mal die Besatzung, die die Vichy-Regierung am mehr oder weniger kurzen Band führte. Die Rede Macrons von 2017 beschwieg den Holocaust. Die einzigen Täter waren die französischen Polizisten, die Auftraggeber der Untat blieben im Dunkeln. Das historische Urteil gerann zum moralischen. Die Realität der Okkupation, die Herrschaftsverhältnisse, die beflissene Bereitwilligkeit der karrierebewussten Schreibtischtäter, die allgemeine Praxis der Repression im besetzten Frankreich, die Résistance verschwanden hinter abstrakten Kategorien wie Hass, Antisemitismus, geschichtslosen Tätern und Opfern. Das Vichyregime wurde zur „Parenthese“ im republikanischen Fortschritt von Vernunft und Freiheit, natürlich repräsentiert von den regierenden Eliten. Das Leiden der Juden wurde – wieder einmal – instrumentalisiert.

Der Tweet Mathilde Panots konnte also nicht „unschuldig“ sein. Das fehlende Pathos, die Nichterwähnung der Opferidentität und des Antisemitismus, das Sakrileg, im Kontext des Holocaust Macron und Le Pen zu verbinden, waren eine zu gute Gelegenheit. Die Twitter-Stürmer mussten so handeln. Sie wissen es nicht besser, fühlen sich (zum Teil) als Antifaschisten, zumindest als Kämpfer für die liberale Vernunft, gegen den rechten und linken Totalitarismus. Auch Macron (oder sein Redenschreiber) nutzte die Gelegenheit. Seine Ansprache vom 17. Juli enthält zwar die genre-üblichen rhetorischen Übertreibungen, aber an zwei Stellen übt er eine ungewöhnlich scharfe Kritik an Pétains Antisemitismus. Auch die ideologische Vorgeschichte in den 30ern (in der z.B. Maurras exzellierte) wird zumindest erwähnt, zwar in der bekannten macronschen Vagheit, aber immerhin. Das ist natürlich gegen Zemmour gerichtet (den er nicht mehr braucht), aber auch indirekt gegen die von Panot gezogene Verbindung Macron-Le Pen.

„Das Gedenken ersetzt à la longue die Geschichte“. Mit diesen Worten hatte im Jahr 2007 der eminente Historiker Pierre Nora die „Gedenkgesetze“ des französischen Parlaments kritisiert. Diese implantieren sich wie von selbst in den Medien und der Schulbildung. In dieser Perspektive ist „Geschichte“ nur am Beispiel von „persönlichen, familialen oder kommunitären Dramen zu verstehen“ (Benjamin Stora). Natürlich werden die gerade aktuellen Gedenktage im Unterricht „erarbeitet“. Man zieht jedoch dem mühevollen Verstehen der sozialen, ökonomischen, politischen, ideologiegeschichtlichen Zusammenhänge die (emotionale) Darstellung von Schicksalen vor. Ein bei Lehrern (und ihren Vorgesetzten) beliebtes Video zeigt ein Interview mit einer Zeitzeugin, die 1942 8 Jahre alt war. Sie berichtet glaubhaft von der Verhaftung ihrer Mutter, die in ihrer Verzweiflung ihre Töchter ohrfeigt, damit sie aus der Wohnung fliehen, von den Polizisten, die in diesem Moment bewusst wegschauen und schließlich von einem letzten Adieu durch den Lagerzaun von Drancy. Bilder entstehen, denen man sich nicht entziehen kann, die wir jedoch selbst produzieren, denn es gibt von der gigantischen Razzia-Aktion nicht ein einziges Photo. Gute Lehrer nehmen Betroffenheit nur als Einstieg in den größeren Kontext – wenn sie die Zeit haben. Der nächste Gedenktag, das nächste Video, wartet schon. Dass die Medien die Methode der Produktion von Betroffenheit perfektioniert haben, muss hier nicht erwähnt werden.

Schon Guy Debord wusste:

Wo die Welt sich zu simplen Bildern verändert, werden die simplen Bilder wirkliche Wesen und bewirken ein hypnotisches Verhalten. Das Spektakel als Tendenz, die Welt über unterschiedliche spezialisierte Vermittlungen die Welt sichtbar zu machen, löst den in anderen Epochen privilegierten menschlichen Sinn ab, das Berühren.

Was berührt wurde, war in jenen Zeiten wirklich, so wie wir das, was wir sehen (sollen), als wirklich „ansehen“. Dass uns diese Erkenntnis heute banal erscheint, zeigt die Allgegenwärtigkeit des Phänomens. Die Bilder der unschuldigen Opfer und der hasserfüllten kalten Täter strukturieren unser Geschichtsverständnis. Man kann (und darf) sich dem nicht entziehen. Die Folgen sind allerdings gravierend. Das Gedenken wird über diese Bilder instrumentalisiert. Der Präsident ist ein Meister in dieser Übung. So suggeriert er in seiner Ansprache vom 17. Juli dieses Jahres, es gäbe eine Linie vom Judenhass der Täter von 1942 zum Antisemitismus der islamistischen Terroristen 2012 und 2015. Darüber mag man diskutieren, aber bitte erst nach eingehender wissenschaftlicher Forschung der gesellschaftlichen Ursachen. Sonst wird es in der Tat gefährlich.

Die Publizistin Marianne Kröger schrieb schon 1998:

Ist es wirklich so schwer, sich eine Erinnerungskultur jenseits von PR-Mechanismen, Trivialisierung, sentimentalen Gefühlslagen, Eitelkeit und Selbstüberhöhung vorzustellen? Oder eine Wissenschaft des Erinnerns, die nicht Theorievermeidung, Subjektivismus und Emotionalisierung zu ihren wichtigsten Pfeilern erhebt?

Fast ein Vierteljahrhundert später sehen wir: Es ist noch schwerer geworden – zumindest in der französischen Republik. Verdammt schwer.

Guy Debord, La société du spectacle. Paris 1967 (Gallimard)

Laurent Joly, L'Etat contre les juifs. Paris 2018 (Grasset)

ders. Falsification de l'histoire. Paris 2022

Pierre Laborie, Le chagrin et le venin. Occupation. Résistance. Idées recues. Paris 2014 (Gallimard)

VincentMillet (dir.), Histoire des polices en France. Paris 2020 (Belin)

Benjamin Stora, La guerre des mémoires, Paris 2011 (éditions de l'aube)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden