Macrons magical history tour

Kommentar Vom politischen Gebrauch des Gedenkens

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Mit den wirklich dunklen Abgründen der Geschichte, will sich Emmanuel Macron in seinem Gedenken lieber nicht befassen
Mit den wirklich dunklen Abgründen der Geschichte, will sich Emmanuel Macron in seinem Gedenken lieber nicht befassen

Foto: Loic Venance/AFP/Getty Images

Der Engel der Geschichte hat sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und ihm vor die Füße schleudert.

Ich weiß nicht, ob der französische Präsident Benjamin gelesen hat, sein Umgang mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ zeigt jedenfalls ein anderes, ziemlich unbefangenes Geschichtsverständnis.

Eine ganze Woche lang begibt er sich im „traurigen Monat November“ (Heine) auf eine so genannte „Itinérance mémorielle“, eine Gedenktour zu den wichtigsten Gedächtnisorten der großen Schlächterei, die immer noch die „Grande Guerre“ genannt wird. Am 4. November besucht er mit seinem deutschen Pendant ein Friedenskonzert im geschichtsträchtigen Straßburger Münster (natürlich Beethoven und Debussy), in den folgenden Tagen wird er vor den „Monuments aux morts“ der großen Schlachtstätten stehen und still gedenken: in Morhange, in Verdun, bei Maubeuge, an der Somme. Er wird auch nicht in Fünfsternehotels nächtigen, sondern bescheiden wie ein Soldat auf Mission in Präfekturen, ja selbst in Unterpräfekturen. Vielleicht trifft er sogar mit ausgesuchten Gewerkschaftlern zusammen. Der de-industrialisierte Osten und Norden braucht dringend Arbeitsplätze. Wieder sind viele in Gefahr. Bringt er Hoffnung? Vielleicht auch mehr als das?

Am Samstag, den 10. November, wird er mit Angela Merkel in Compiègne still gedenken. Freundschaftlich, denn die Zeiten der Feindschaft sind vorbei. Am Sonntag schließlich wird während einer internationalen Zeremonie unter dem Triumphbogen zusammen mit 90 Staatsführern, darunter Putin und Trump, des Waffenstillstands vom 11. November 1918 still gedacht werden. Es gibt keine Militärparade. Die würde die deutschen Partner irritieren (glaubt man). Dafür darf die Kanzlerin bei einer großen Konferenz der Regierungschefs die Eröffnungsrede halten. Wir haben aus Versailles gelernt. Vorbei die Zeit der Demütigung und der ungerechten Verträge, die nur weitere Kriege erzeugen. Dass der zweite Weltkrieg ein direktes Produkt der Pariser Vorortverträge war, scheint mittlerweile Doxa zu sein. So stand es schließlich auch in den deutschen Schulbüchern der fünfziger und sechziger Jahre.

Der Präsident nimmt sich also Gedenkzeit, viel Gedenkzeit, ungemein viel Gedenkzeit. Wer glaubt, dass er dabei die offenkundige Sinnlosigkeit des Krieges demonstrieren will, irrt jedoch. Der Präsident unternimmt die lange Wanderung, um

dem Kampf der Haarigen (poilus, volkstümlicher Name der einfachen Soldaten), der Arbeiter, der Bauern, der Lehrer, die auf dem Feld der Ehre gefallen sind, einen Sinn zu geben, daran zu erinnern, wessen Erben wir sind und dieses Gedächtnis zu teilen (Mitteilung des Elysée nach Reuters).

Der „Anhäufung von Trümmern auf Trümmern“ einen Sinn geben? Feld der Ehre? Wir Gegenwärtigen als Erben dieser tapferen, sich für das Vaterland opfernden Soldaten? „Sinn“ macht in diesem Zusammenhang höchstens die – eigentlich unpräsidentiale – Verwendung des Wortes „Poilu“ (der Borstige, Haarige), das vor 1914 im Militärjargon für Mut und Virilität stand, im Krieg dann zur Diffamierung der „Embusqués“ (der Drückeberger) diente. „Sinn“ macht die positive Bewertung der erzwungenen Täter- und Opferbereitschaft vor allem, wenn sie instrumentalisiert wird. Der Historiker Enzo Traverso urteilt:

Die Obsession des ständigen Gedenkens übersetzt sich in eine Erinnerungspolitik, der jede kritische Reflexion der Gegenwart fehlt.

Natürlich spiegelt die „Itinérance mémorielle“ die Gegenwart des Präsidenten, auch wenn die Planung seit einem Jahr die Büros des „Elysée“-Palastes beschäftigt. Sie sollte wohl an die rituellen Provinzreisen des Generals De Gaulle erinnern. Und in gegenwartsmemorieller Perspektive ist das Glück - wie zu erwarten - Macron wieder hold. Es schien ihn seit der Benalla-Affäre verlassen zu haben. Die Wirtschaft will einfach nicht auf seine genialen Coups reagieren, Kaufkraft und Arbeitslosigkeit stagnieren, die Armut nimmt zu, der exorbitante Reichtum der schon exorbitant Reichen ebenfalls. Seit bekannt wurde, welche schlagkräftigen Freunde im Elysée sitzen, wagen selbst einige der bürgerlichen Medien, sich ab und zu kritisch über den Präsidenten zu äußern. Für den 17. November sind große Demonstrationen gegen die Dieselerhöhungen vorgesehen. Das „Rassemblement national“ Le Pens, von Macrons Marketingabteilung als Gegner Nr. 1 bei den Europawahlen vorgesehen, könnte davon profitieren. Die „Itinérance“ kommt also à point.

Macron wird die Gelegenheit nutzen. Für die Steigerung seiner Popularität macht sie "Sinn". Eine Woche lang werden die Franzosen die „memorielle“ Stärke und Inszenierungkunst ihres Präsidenten bewundern dürfen. Er wird von Krieg und Frieden, von Tapferkeit und Opfermut, von Lehren aus der Geschichte und einem Europa des Friedens sprechen. Er wird die Friedenssehnsucht der Völker erwähnen. Er wird als aufgeklärter Patriot über die Gefahren des Populismus und Nationalismus sprechen, aber auch von sicheren Grenzen und notwendiger Verteidigungsbereitschaft, von Nato und Terrorismus. Und er wird still gedenken. Mit sicheren Gesten. Mit gesenktem Haupt. Eine Woche lang.

Schweigen wird er wohl auch von der willentlichen Opferung der senegalesischen Truppen am „Chemin des Dames“ 1917 durch den General Mangin, dem „Schlächter der Schwarzen“. Übergehen wird er wohl auch ein Schicksal wie das des Winzers Eugène Bouret, 27 Jahre, verheiratet, Vater eines Kindes. Bouret wird am 24. August 1914 bei einem Artillerieangriff verwundet. Er irrt hinter den Linien umher, wird in einer Scheune festgenommen, als Deserteur verdächtigt, verurteilt und am 7. Seprember, seinem Hochzeitstag, erschossen. Nicht erwähnen wird der Präsident wohl auch den Schreiner Henri Kuhn aus Châlons-sur-Marne, der während der Offensive am Chemin des Dames seinem Leutnant zurief:

Ihr könnt mich erschießen, aber ich geh' nicht mehr in die Gräben. Kommt übrigens aufs gleiche raus!

Mit anderen Kameraden versucht Kuhn sich abzusetzen. Es misslingt. Vier von ihnen werden zu Tode verurteilt, darunter auch Henri Kuhn. Insgesamt 1408 „Poilus“ werden im Großen Krieg zu Tode verurteilt, 22% von ihnen Bauern, 67% Arbeiter, Handwerker, kleine Händler.

Auch vom „Kanaken-Krieg“ in Neu-Kaledonien von 1917 wird er nicht sprechen mögen, der ausbricht, weil die jungen Kanaken kein Kanonenfutter im „Krieg der Weißen gegen Weißen“ mehr sein wollen und sich der Rekrutierung entziehen. Die Kolonialregierung versucht – ganz macronistisch avant la lettre – ein „Fest der Versöhnung“ zu feiern, während dessen der Aufstand ausbricht. Am Ende haben die Kolonialtruppen hunderte Kanaken getötet. Noch am 8. Oktober 1920 werden zwei „Rädelsführer“ guillotiniert. Vieles wäre zu bereden, wenn man denn wollte. Und dann warten noch all den Ereignisse, über die der lange Militärmantel des Verschweigens ausgebreitet ist.

Stellen wir uns also auf eine große einwöchige Friedensshow auf den Blutfeldern von früher ein, ertragen wir die sich mit Bescheidenheit tarnende Unbescheidenheit eines präsidialen Selbstdarstellers und der zahlreichen Nebenakteure in der Hoffnung, dass auch diesem Caesar die Trümmer vor die Füße geschleudert werden. Die Gallier, über die Macron wegen ihrer Widerständigkeit gegen Reformen so gerne spottet, können dies ganz gut, spätestens seit Vercingetorix. Allein, auch das ist nur ein Mythos.

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