Bloß nicht in die Ecke treiben

Europa Braucht es harte Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei, um Erdoğan zur Räson zu bringen? Zweifel an dieser Strategie sind angebracht
Ausgabe 30/2017

Die Bundesregierung hat ihre Reisehinweise für die Türkei verschärft. Das ist nachvollziehbar, ja ein Gebot der Fürsorge für ihre Bürger angesichts berechtigter Sorgen um das türkische Justizsystem. Die Verhaftungen deutscher Journalisten und Menschenrechtler sind so wenig nachvollziehbar wie Terrorvorwürfe an deutsche Bürger und Firmen.

Ob nach dem Ton auch das Tun verschärft wird, bleibt abzuwarten. Der EU jedenfalls stehen gleich zwei finanzielle Maßnahmen zur Disposition. Die erste sind die 4,45 Milliarden Euro an Vorbeitrittshilfen, mit denen das Land für die EU-Mitgliedschaft fit gemacht werden soll. Um die Zahlung auszusetzen, braucht Deutschland ein gemeinsames Vorgehen aller EU-Staaten. Zudem hat die Türkei bisher nur einen kleinen Anteil der Hilfen erhalten, sodass deren Ausfall Ankara kaum schmerzen dürfte. Wirkungsvoller wäre die Aussetzung der sogenannten Hermesbürgschaften, die Unternehmen vor Zahlungsausfällen ausländischer Abnehmer schützen und das Öl im Getriebe großer Exportgeschäfte sind. Kann dies Recep Tayyip Erdoğan zum Einlenken bewegen?

Er braucht Wirtschaftsdynamik, um einen sicheren Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2019 zu erringen. Derzeit ist das Wirtschaftswachstum schwach. Inflation, Arbeitslosigkeit und die Verschuldung privater Haushalte steigen. Aufgrund des hohen Handelsbilanzdefizits und der geringen Sparrate ist die Türkei auf Kredite und ausländische Direktinvestitionen angewiesen, die aufgrund des schlechten Investitionsklimas nach dem Putschversuch 2016 eingebrochen sind. Daher würde die Aussetzung der Hermesbürgschaften die türkische Wirtschaft arg in die Bredouille bringen.

Gleichzeitig aber sind Zweifel an der Wirksamkeit harter Sanktionen berechtigt. Befürworter Letzterer argumentieren mitunter, Erdoğan verstehe nur die Sprache der Macht, wie sie Wladimir Putin nach dem Abschuss eines russischen Militärjets im Oktober 2015 gebrauchte: Er verhängte Sanktionen gegen die Türkei – und brachte Erdoğan dazu, sein Bedauern über den Vorfall zu artikulieren. Doch diese Betrachtungsweise ignoriert, dass die Machtmittel der deutschen Regierung im Gegensatz zu denen Putins begrenzt sind. Sie kann nicht einfach Türkei-Urlaube verbieten oder Ex- und Importe stoppen wie Putin in Russland, wo der Staatsapparat eine monopolistische Wirtschaft kontrolliert. Zudem würden harte Sanktionen zuerst untere Einkommensschichten der Türkei treffen. Das könnte dazu führen, dass diese sich mit Erdoğan solidarisieren.

Eine Neuausrichtung der Türkei-Politik ist aber trotzdem notwendig. Deutschland und die EU könnten der türkischen Regierung eine Exit-Option anbieten, die ihr aus der misslichen Lage hilft.

Das Land befindet sich seit dem Putschversuch 2016 in einer existenziellen Krise. Hinzu kommen der Krieg in Syrien und der Zweifrontenkampf gegen IS und PKK. Es könnte daher zur Entspannung beitragen, wenn die EU und Deutschland aktuelle Sicherheitsbedürfnisse der Türkei ernster nehmen würden.

Eine Politik der Anreize

Es gibt einen weiteren Weg, wie die EU zur Beendigung des Ausnahmezustands beitragen kann: Sie könnte Amnestie für bestimmte Gruppen von Inhaftierten fordern und im Gegenzug die von der Türkei ersehnte Visa-Liberalisierung in Aussicht stellen. Ein Anreiz wäre es auch, die Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion auf Dienstleistungen und Agrarprodukte auszuweiten. Eine derartige Politik der Anreize hat zwei Vorteile: Erstens wäre die Türkei nicht in die Ecke getrieben und würde sich nicht mit dem Rücken zur Wand fühlen, sodass ihr alles egal wäre. Zweitens würde sie das Verhältnis der Türkeistämmigen in Deutschland zur Mehrheitsbevölkerung und der Regierung nicht belasten.

Es wäre fatal für den Integrationsprozess, würde der Konflikt mit Ankara auf dem Rücken der Türkeistämmigen hierzulande ausgetragen. Es kann nicht sein, dass diese pauschal dazu aufgefordert werden, sich zu Erdoğan zu positionieren. Schließlich verlangen wir auch nicht etwa von russischstämmigen Deutschen, sich gegenüber Putin zu positionieren. Blinder Aktionismus ist zu vermeiden. Dies würde nur die Kluft zwischen Türkeistämmigen und der Mehrheitsbevölkerung vergrößern.

Yaşar Aydın hat gerade das Buch Türkei. Analyse politischer Systeme (Wochenschau Verlag 2017, 224 S., 14,90 €) veröffentlicht

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