Schlag nach bei Trump

Porträt Muharrem İnce ist mit einem leidenschaftlich populistischen Wahlkampf zum Hoffnungsträger der Opposition aufgestiegen
Ausgabe 25/2018
Ansehen erlangte der Chemie- und Physiklehrer İnce 2014, als er in seiner Heimatstadt Yalova das Wahlergebnis anfechten ließ
Ansehen erlangte der Chemie- und Physiklehrer İnce 2014, als er in seiner Heimatstadt Yalova das Wahlergebnis anfechten ließ

Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images

Bei ihm lautet die Formel für eine demokratische, gerechte und lebenswertere Türkei 3-B – barış, büyüme, bölüşüm (Frieden, Wachstum, Verteilung). „Wir werden uns wieder vertragen, in Frieden leben und den Wohlstand gerecht verteilen“, ruft er einer nächtlichen Kundgebung im Istanbuler Stadtteil Kadıköy zu. Muharrem İnce spricht am 9. Juni vor Hunderttausenden und verkündet, er wolle ein überparteilicher Staatspräsident sein.

Dem erfahrenen Politiker von der Republikanischen Volkspartei (CHP) ist es gelungen, mit einer energischen Wahlkampagne als ernst zu nehmender Herausforderer von Staatschef Erdoğan wahrgenommen zu werden. Noch im April ordneten die Medien diesen Part einer anderen Erdoğan-Rivalin zu: Meral Akşener von der nationalkonservativen İyi-Parti (Gute Partei), die sich lange über gute Umfragewerte freuen konnte. Auch kürte die CHP-Führung İnce erst zum Kandidaten, als entschieden war, dass es keine Kandidatur des Ex-Präsidenten und AKP-Politikers Abdullah Gül geben würde.

Inzwischen hat sich das Kräfteverhältnis derart verändert, dass İnce selbst aus dem konservativen Lager Chancen eingeräumt werden, sich gegen Erdoğan durchzusetzen. Der habe seine bisherigen Amtsperioden als Gesellen- und Meisterjahre bezeichnet, folglich jetzt den Ruhestand verdient. Ein erschöpfter Präsident könne die Probleme des Landes nicht lösen, so İnce.

Obwohl der heute 54-jährige CHP-Politiker schon seit 2002 im Parlament sitzt, machte er erst 2009 bei der Haushaltsdebatte auf sich aufmerksam. Videomitschnitte seiner Rede brachten es bei Youtube auf einen Rekord an Aufrufen und wurden in sozialen Medien hunderttausendfach gepostet. Ansehen erlangte der Chemie- und Physiklehrer bei den Kommunalwahlen 2014, als er in seiner Heimatstadt Yalova das Wahlergebnis anfechten ließ. Bei der Neuzählung gewann dann anstelle des AKP-Politikers der CHP-Kandidat das Bürgermeisteramt. Wenig erfolgreich war İnce hingegen beim parteiinternen Machtkampf: Er unterlag zweimal – 2014 und 2018 – Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu.

Umfragen ohne Gewähr

Hoffnungen weckt İnces Vier-Parteien-Allianz unter moderaten Linken, den Anhängern Atatürks und vielen säkular urbanen Milieus. Doch auch religiös-konservativen Wählern, die für den Wahlausgang von großer Bedeutung sind, begegnet der CHP-Politiker mit Empathie und Respekt. Zu Beginn seiner Wahltournee besuchte er die Eyüp-Sultan-Moschee, ein Pilger- und Besuchsort gläubiger Türken, und erklärte: „Mit Erlaubnis Gottes und gemäß dem Willen der Nation werde ich am 24. Juni zum Präsidenten gewählt.“ Diese Art von populistischer Zuversicht ist für CHP-Politiker eher ungewöhnlich. Auch mit Zuspruch der Kurden kann İnce rechnen, deren Stimmen bei der Präsidentenwahl entscheidend sein können, sollte es zu einem Stechen kommen. Nach Bekanntgabe seiner Kandidatur besuchte er den inhaftierten kurdischen Präsidentschaftsbewerber Selahattin Demirtaş von der Partei der Völker (HDP) in seiner Gefängniszelle. Mit den Kurden will sich İnce auf jeden Fall verständigen und hält Unterricht in ihrer Muttersprache landesweit für angemessen. Üblicher Stimmenfang? Wohl kaum, bereits vor zwei Jahren votierte İnce im Parlament gegen die von Staatschef Erdoğan betriebene, auch von der CHP-Fraktion unterstützte Aufhebung der Immunität von – zumeist kurdischen – Abgeordneten der HDP.

İnce und die von der CHP geführte Allianz der Nation wollen zum Parlamentarismus zurückkehren, den Rechtsstaat wiederherstellen, die Medienfreiheit garantieren. Ob es tatsächlich zu einem Machtwechsel kommt, wird auch davon abhängen, inwieweit der neue Hoffnungsträger Menschen jenseits klassischer CHP-Anhänger gewinnt und die Unentschiedenen überzeugt. Es ist nicht auszuschließen, dass bei Umfragen der Trump-Effekt eintritt: durch den Ausnahmezustand, eingeschüchterte Wähler sagen den Meinungsforschern nicht die Wahrheit. In den USA hatten im Herbst 2016 von 67 Umfragen nur vier Trump als Sieger erwartet. Schließlich fahre, so der konservative Kolumnist Fehmi Koru, İnce eine ähnliche Strategie wie Trump: Erdoğan ins Visier nehmen, die Dosis der Kritik sukzessive erhöhen, regierungsnahe Medien attackieren und Mut zum Populismus haben.

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