Zum Tod von Milan Kundera: Mit der Liebe kannte er sich aus
Hommage Im Westen wurde Milan Kundera vor allem als Dissident rezipiert. Im ehemaligen Jugoslawien bewunderte man ihn vor allem wegen seiner Literatur. Alida Bremer zum Tod von Milan Kundera, der 94-jährig in Paris gestorben ist
In meiner Jugend erlebte ich eine andere Sozialisation als meine deutschen Freundinnen und Freunde, was besonders an den bei uns populären Schlagern und Fernsehserien deutlich wird, und auch an den Büchern, die uns geprägt haben. Die Unterschiede sind vor allem dann spürbar, wenn über bedeutende Persönlichkeiten berichtet wird. Ich merke dann, dass meine kroatischen, serbischen, bosnischen oder slowenischen Bekannten ganz anders darauf referieren als meine deutschen.
So war es auch bei der Nachricht über den Tod von Milan Kundera, der am 11. Juli 2023 mit 94 Jahren in Paris gestorben ist: Während sich meine Bekannten aus dem ehemaligen Jugoslawien beeilten, in den sozialen Medien über den tschechisch-französischen Schriftsteller zu posten, u
posten, und zwar ausnahmslos eine Mischung aus persönlichen Erinnerungen, Verehrung, Bewunderung und Nostalgie („Er hat mir beigebracht, was Liebe bedeutet“; „Er hat mir gezeigt, was das wahre Leben ist“; „Von Kundera habe ich all das über die Literatur gelernt, was mir wichtig ist“; „Mit ihm fand ich zum Lesen“), reagierten meine deutschen Bekannten in ihren Einträgen kaum oder nur informativ auf diese Nachricht, nur eine Freundin schrieb, dass ihr die Lektüre seiner Romane viel bedeutet habe.Milan Kundera hatte im ehemaligen Jugoslawien seine ideale LeserschaftDas ehemalige Jugoslawien, dieses Atlantis zweier europäischer Nachkriegsordnungen, das zweimal existierte und zweimal unterging (1918–1941 und 1945–1991), war das einzige sozialistische Land, in dem seine Bücher direkt nach dem Erscheinen übersetzt und veröffentlicht und seine Texte für die Bühne adaptiert wurden, zum Beispiel Der Scherz oder Jacques und sein Herr – bei der Premiere 1981 war Milan Kundera sogar selbst in Zagreb anwesend. In einem Lied des serbischen Kantautors Đorđe Balašević hieß es über eine Frau: „In ihrem Zimmer hatte sie viele Bücher eines geflüchteten Tschechen“. Jeder wusste, um welchen Tschechen es sich handelte – und was für eine großartige Frau die Besungene sein musste. Jugoslawien gehörte zur Bewegung der Blockfreien Staaten und war früh der Einflusszone der Sowjetunion entrückt. Es herrschte eine relative Freiheit im Land, eine russische Intervention war seit den 50er Jahren nicht mehr denkbar, und nicht nur die offenen Grenzen, sondern auch die Programme der Verlags- und Theaterhäuser zeugten von der erstaunlichen Offenheit, die im Land damals herrschte. Milan Kundera hatte dort seine ideale Leserschaft: Während seine Werke in anderen Ländern Osteuropas nicht zugänglich waren, war er in den Ländern des Westens einer unter vielen Romanautoren auf dem Büchermarkt, außerdem wurde er allzu oft vor allem als Dissident rezipiert, was ihm missfiel. Er wollte nur nach seinem Schreiben beurteilt werden, und hätte er gekonnt, dann wäre er so rätselhaft wie Thomas Pynchon oder Elena Ferrante gewesen, er träumte von einer literarischen Welt, in der das Augenmerk nicht auf den Autor, sondern auf sein Werk gerichtet ist. Genau das glückte ihm in Jugoslawien: Man bewunderte ihn vor allem wegen seiner Literatur. Sein Verständnis für die Kunst des Romans, die für ihn zum Fundament der europäischen Kultur gehörte und deren Linie von Cervantes, Sterne, Rabelais und Diderot zu Musil, Broch, Gombrowicz und Kafka führt, sollte nicht auf eine politische, eine biographische beziehungsweise auf eine bloß thematische Ebene reduziert werden. In Jugoslawien verstand man diese Position nicht nur auf theoretischer (man kannte sich dort mit den amerikanischen postmodernen Literaturtheorien genauso aus wie mit den russischen Formalisten und Michail Bachtin), sondern auch auf einer textimmanenten Ebene. Nur ein Roman, so die Lehre aus den Romanen Kunderas, kann die Ambivalenz des Seins darstellen, ohne dabei dogmatisch zu werden.Er wählte die Liebe als den metaphorischen Gegensatz zum totalitären Denken. Die Kunst des Romans bot ihm die Möglichkeit, etwa vom „Lachen“ und vom „Vergessen“ zu erzählen und dabei die manipulativen Techniken der Diktatoren zu meinen, die die Wahrheit ausradieren und durch ihre propagandistischen Konstruktionen austauschen können, wobei Kundera mit dem Vergnügen eines Musikers wie beim Jazz Motive aufgriff, fallen ließ, wieder aufgriff, so dass Erotik und Politik, Begehren und Eifersucht, Intrige und Treue, Verrat und Liebe, Missgunst und Großzügigkeit sich miteinander verflochten und ineinander spiegelten. „Der Scherz“, „der Walzer“, „die unerträgliche Leichtigkeit“, „die Unwissenheit“, „die Langsamkeit“, all diese Begriffe aus den Titeln seiner Romane – bis hin zur „Bedeutungslosigkeit“, „Unsterblichkeit“ oder „Identität“ – sind von einer flatternden, vibrierenden Unstetigkeit, als wollte der Autor signalisieren, dass man sie nur als Kompositionen, eventuell als Tanznummern wahrnehmen sollte.„Wie schade, dass wir Panzer benutzen müssen, um sie zu lehren, was Liebe ist“Mit der Liebe kannte er sich aus. Zehn Jahre nach der Premiere von Jacques und sein Herr bekamen die Zagreber zu spüren, was Milan Kundera mit der „gekränkten Liebe“ der russischen Besatzer in diesem Stück meinte. Dort heißt es ironisch: „Warum wollen diese Tschechen (die wir doch so lieben!) nicht mit uns und auf dieselbe Weise wie wir zusammenleben? Wie schade, dass wir Panzer benutzen müssen, um sie zu lehren, was Liebe ist!“Auch manch ein Slowene oder Kroate empfand damals die Panzer auf den Straßen als einen Akt der gekränkten Liebe. Bei den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens, die sich aus dem jugoslawischen Staatenbund loslösen wollten, wurde viel über den Begriff „Zentraleuropa“ von Milan Kundera diskutiert, gab es doch ausgerechnet in Jugoslawien sowohl die mitteleuropäische Tradition aus seinem Essay Die Tragödie Mitteleuropas wie auch eine „byzantinisch-orthodoxe“ (neben einer islamischen, die Kundera im Unterschied zur jüdischen als nicht konstitutiv für die europäische Kultur betrachtete). Die Befürworter der These, dass der Zerfall Jugoslawiens und schließlich der Krieg in der Ukraine bewiesen haben, dass Milan Kundera recht hatte, als er die „zentraleuropäische“ und „russische“ Zivilisation als unversöhnlich sah (und die „westeuropäische“ als blind und ignorant, da des eigenen Zentrums beraubt, sich dessen jedoch nicht bewusst), treffen auf ihre Gegner, die es mit Joseph Brodsky halten und meinen, die russische Kultur gehöre durchaus dazu, die Romane von Dostojewski eingeschlossen, in denen Kundera dagegen Elemente eines aggressiven Verhaltens zu erkennen glaubte, das sich als „brüderliche Liebe“ tarne, die man notfalls mit Panzern erzwinge. Bis heute kann man also seine idealen Leser im Gebiet dieses untergegangenen Atlantis antreffen, das weder Westen noch Osten sein wollte. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind seine Werke, viele in mehreren Ausgaben, vollständig übersetzt und mit viel Sympathie gelesen worden, auch wenn man sich bis heute nicht über seinen Begriff „Zentraleuropa“ und seine Kritik der „russischen Zivilisation“ einigen kann.