Geschichtsbild Milan Kunderas Essay „Der entführte Westen“ aus dem Jahr 1983 wurde gerade neu aufgelegt – und dabei als hellsichtig und aktuell gepriesen. Gleichwohl irrte Kundera schon damals fundamental
So manches in Milan Kunderas Europa-Essay erinnert an Jonas im Bauche des Walfischs
Foto: VCG Wilson/Corbis/Getty Images
Mitteleuropa, konstatierte Milan Kundera in seinem berühmten Essay vom „entführten Westen“ im Jahr 1983, liege „kulturell im Westen und politisch im Osten“; es sei vom Osten nur entführt, „kidnappé“, wie es im französischen Original heißt. Statt, wie damals im Westen viele und im Osten manche wünschten, die Mauer durch Europa einzureißen, verlegte Kundera sie dahin, wo sie seiner Ansicht nach hingehörte: von der Elbe bis an die polnische Ostgrenze und von Wien in die Karpaten. Der Aufsatz des tschechisch-französischen Schriftstellers, erschienen in der Zeitschrift Le débat, wurde damals, kurz nach der Solidarność-Revolte in Polen, vielfach übersetzt und gab dem Verständnis der gro
dnis der großen Wende im Osten Europas bei vielen die Richtung vor.Bei der Lektüre von Kunderas Aufsatz stellt sich 2023 beim Rezensenten der FAZ der Eindruck ein, „es habe sich nichts verändert in den Jahrzehnten seither“. „Hellsichtig“ findet auch die Zeit in einem Text kurz nach Kunderas Tod im vergangenen Juli die 40 Jahre alte Schrift, und zwar so sehr, dass sie dem Leser „noch immer den Atem raubt“. Und als der Kampa Verlag den Essay ein halbes Jahr später wieder publiziert, befindet das gleiche Blatt, er habe „an Aktualität nicht nur nicht verloren, sondern sogar gewonnen“. In gewisser Hinsicht stimmt das sogar: Wenigstens die Mythen von damals sind wieder beklemmend aktuell. Im Blick nach Osten hat sich im deutschen Feuilleton „in den Jahrzehnten seither“ tatsächlich nichts verändert.Klischee von MitteleuropaKunderas ideelle Grenzverschiebung blieb keine bloße Metapher. Als es wenige Jahre später um Jugoslawien ging, war es Kundera, der den dortigen Staatszerfall mit einer kulturellen Note würzte: „Was in aller Welt hat Slowenien mit dem Balkan zu tun?“, fragte der Dichter. Slowenien sei „ein katholisches Land“; der Vielvölkerstaat könne nur ein Durchgangsstadium in einem Prozess der Nationalisierung sein, der im Übrigen seinen „natürlichen Gang“ gehe. Kein Wunder, dass in den Folgejahren serbische und kroatische Kriegsherren den Gedanken weidlich für die Durchsetzung ihrer „ethnischen Säuberungen“ nutzten.Kundera konnte das so nicht wissen. Aber wer ihn heute wieder liest, muss sich schon fragen, was zu folgern ist, wenn jenseits des „im römischen Christentum verwurzelten Teil Europas“ eine „andere Zivilisation“ beginnen soll, wie Kundera meinte. Wenn Katholiken und Orthodoxe in Jugoslawien wegen ihrer bloßen Verschiedenheit nicht zusammenleben können, wie können sie es dann in Bosnien? Wie in Rumänien, wo übrigens der modische Mitteleuropa-Diskurs schon damals übel aufgenommen wurde, zumal unter den Dissidenten im besonders mitteleuropäischen Temeschwar? In Lettland mit seinen 27 Prozent ethnischen Russen? Wie geht das in der EU – mit den orthodoxen Mitgliedern Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Zypern? Und was bedeutet es dann erst für die Einwanderungsländer? Können protestantische Deutsche und muslimische Türken jemals miteinander auskommen? Wie der „natürliche Gang“ der Nationalisierung hier aussehen könnte, mag man sich nicht ausmalen. Das alles waren keine Fragen des Jahres 1983. Aber auch 40 Jahre später braucht man sie offenbar nicht zu stellen.Einmal befreit und in die westliche Heimat zurückgeführt, würde das „entführte“, „gekidnappte“ Mitteleuropa dem ganzen Kontinent seine verlorene kulturelle Identität zurückgeben, hoffte Kundera. Indiz dafür war ihm die Rolle, die „die Poesie, die Musik, die Architektur, die Philosophie“ in der „Kette der Revolten“ gespielt hatte: in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968, in Polen 1980. Als Zeugnis führte er die Bedeutung und enormen Auflagen der Literaturzeitschriften in der Tschechoslowakei an, verglichen mit seiner Wahlheimat Frankreich, wo die Kunst nur noch eine marginale Rolle spielte.Ironischerweise waren die populären Higbrow-Schriften gerade ein Merkmal der kommunistischen Parteiherrschaft, geschuldet der Ödnis in den staatlich kontrollierten Massenmedien. Seit der großen Wende um 1990 haben die Buchhandlungen in den mitteleuropäischen Städten Wettbuden Platz gemacht, und auch in Prag, Warschau oder Budapest schauen die Massen lieber RTL. Das Klischee vom bildungsaffinen Mitteleuropa und dem platten, materialistischen Westen ist jedenfalls gründlich widerlegt. Von „mitteleuropäischer Identität“ blieb vor allem die Abneigung gegen Zuwanderung, am klarsten vertreten von Viktor Orbán.Um die Region zu mythisieren, musste Kundera nicht nur deren Gegenwart verkennen, sondern auch ihre Geschichte kräftig schönen. Er pries die „kreative Explosion“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und unterschlug, dass zur gleichen Zeit fast alle Staaten zwischen Deutschland und der Sowjetunion nach wenigen Jahren Demokratie autoritär, oft faschistisch regiert wurden. Bei seinem Lob der mitteleuropäischen Vielfalt vergaß er, dass sich die Nationen der Region gleich nach Erringung der Unabhängigkeit daranmachten, ihre Bevölkerung zu homogenisieren und ebendiese Vielfalt zum Verschwinden zu bringen. Eine böse Ironie steckt in Kunderas – zutreffender – Bemerkung, dass „kein Teil der Welt so tief vom jüdischen Ingenium geprägt“ sei. Kein Wort jedoch davon, dass gerade die Nationalismen Mitteleuropas mit dem schlimmsten, oft hysterischen Antisemitismus einhergingen.Kleine, friedliche Nationen?So atemberaubend aktuell finden die späten Rezensenten den Essay natürlich wegen des darin gezeichneten Bildes vom ewigen Russen und seiner „schrecklichen Fremdartigkeit“ („terrible étrangeté“). Dass nach Kunderas Kriterien auch die gesamte Ukraine in den Orkus der „anderen Zivilisation“ gehört, ist von den nachgeborenen Lesern niemandem aufgefallen. Schrecklich ist tatsächlich der russische Nationalismus mit seinem imperialen, „inklusiven“, sprich: vereinnahmenden, besitzergreifenden, erobernden Charakter, den die Menschen in der Ukraine zu spüren bekommen und der Putin intern die Macht sichert. Der identitäre, ethnisch-exklusive Nationalismus vom mitteleuropäischen Typ, dem Kundera dagegen das Wort redete, taugt aber nicht als Antidot. Im Gegenteil: Nationalismen verbreiten sich über die Grenzen hinweg durch Ansteckung, und sie tun es so gründlich, dass am Ende egal ist, wer damit angefangen hat.Dass seit dem 24. Februar 2022 der russische Imperialismus sein hässliches Gesicht wieder zeigt, ist für Nationalisten vom exklusiven Typ ein Fest. Ihr schiefes Geschichtsbild, nach dem vor Jahrhunderten kleine, friedliche Nationen vom Moloch in Sankt Petersburg, Wien oder Istanbul verschlungen wurden und dort überdauerten wie Jonas im Bauche des Walfischs, knüpft perfekt an die aktuellen Mythen der Entkolonialisierung an. In Wirklichkeit haben die Nationen sich, anders als Kundera noch glaubte, erst im Schoße der Reiche herausgebildet. Gegen diese Imperien hat der Nationalismus der „kleinen Nationen“ sich dann gerichtet: gegen das russische, aber auch gegen das osmanische und vor allem das habsburgische.Die Parolen und Ideologeme von damals sind noch immer zur Hand, und deshalb bildet der mitteleuropäische Nationalismus sich, wo es kein unterdrückendes Imperium mehr gibt, eben eines ein – wie Orbán in Ungarn und Kaczyński in Polen, die sich Brüssel zum Reibebaum gemacht haben. Fatal sind solche Opfermythen nicht nur für ein Projekt wie die Europäische Union, sondern auch für die Nationen selbst. Die Rede vom „entführten Westen“ hat nach 1990 im Osten und Südosten Europas den Irrtum genährt, man müsse nur den Russen (oder wahlweise den Serben, den Ungarn, den Kroaten) in sich austreiben, und schon erstehe der unterdrückte Volksgeist in seiner Reinheit und poetischen Schönheit wieder auf, von aller Geschichte unversehrt.Die scheinbare Aktualität von Kunderas Essay beruht auf einem Denkfehler. Ewig gleich sind nicht die Nationen. Ewig gleich sind aber ihre Nationalismen; das Motiv und die Geschichte ihrer Entstehung werden sie nicht los. Sie sind die wirkliche „Tragödie Mitteleuropas“, und darüber hinaus die Tragödie des ganzen Kontinents. Dass der russische Nationalismus wenn, dann stets imperial auftritt, heißt nicht, dass die Russen immer nationalistisch sein müssten. Der deutsche Nationalismus mit seinem besonders toxischen Doppelcharakter: identitär und imperial zugleich, schlummert ja auch, und das seit bald 80 Jahren.Anders als Kundera es sich 1983 hätte träumen lassen, war es die Führung in Moskau, die wenige Jahre später nicht nur die Satellitenstaaten freigab, sondern auch die Sowjetunion auflöste. Sie tat es zur Freude wohl der meisten Balten und Georgier, aber zum Missvergnügen nicht etwa nur der Abchasen und Osseten, sondern auch der meisten Turkmenen, Tadschiken, Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Aseris, Belarussen. Und, man glaube es oder nicht: der meisten Ukrainer.Placeholder infobox-1
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