Es ist das Lieblingstotschlagargument von Klimaverweigerern: Die Demokratie ist mit der Klimakrise überfordert. Und die Klimabewegung will uns in eine Klimadiktatur zwingen. Suggeriert wird damit: Es gibt nur eines, Demokratie oder Klimaschutz. Ganz abgesehen davon, dass nichts die Demokratie mehr bedroht als die Klimakrise und dass eine Klimadiktatur eher dann folgt, wenn wir nichts dagegen unternehmen, ist die Annahme, Demokratien wären in Sachen Klima schlechter aufgestellt als autoritäre Staaten, lächerlich und, ja: dumm.
Denn zu einer Demokratie gehört mehr als ein gewähltes Parlament mit einer Regierung, die Wahlversprechen teilweise bis kaum umsetzt. Es gibt in einem Rechtsstaat nämlich nicht nur die Gewalt, die Gesetze erlässt, sondern auch ei
nicht nur die Gewalt, die Gesetze erlässt, sondern auch eine, die die Einhaltung dieser Gesetze prüft, auch bekannt als „unabhängige Justiz“. In den letzten Jahren hat die dritte Gewalt den Klimaschutz mindestens so sehr vorangetrieben wie die anderen beiden. Immer wieder haben nationale Gerichte zugunsten von Bürger:innen und Aktivist:innen entschieden, Regierungen zu mehr Klimaschutz verpflichtet und selbst die Große Koalition dazu gezwungen, sich ambitioniertere Klimaziele zu setzen. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 war ein Präzedenzfall in Deutschland.Anfang April hat es einen weiteren gegeben, ebenso auf sehr hoher Ebene: Die Klimaseniorinnen, ein Verband von Klimaaktivistinnen fortgeschrittenen Alters aus der Schweiz, hat die eigene Regierung durch sämtliche Schweizer Instanzen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verklagt und am Ende Recht bekommen. Der Gruppe zufolge gefährdet die Schweiz ihr Menschenrecht auf Leben, weil sie ihre Klimaziele verfehlt. Ältere Frauen sind von zunehmenden Hitzewellen und damit hitzebedingten Todesfällen besonders betroffen.Der EGMR stimmte ihnen zu und forderte die Schweiz auf, die eigenen Gesetze anzupassen. Pessimist:innen würden vielleicht einwerfen, dass der EGMR nicht in der Lage sein mag, die Schweizer Regierung zu einer besseren Politik zu zwingen. Doch vorherige nationale Gerichtsentscheidungen haben gezeigt, dass sich demokratische Regierungen zu diesen Urteilen verhalten müssen und ihre Politik entsprechend anpassen. Falls sich doch nichts ändert, könnten die Klimaseniorinnen erneut klagen und darauf pochen, dass ihr Recht, das der EGMR ja nun bestätigt hat, eingehalten wird. Auch dass es acht Jahre gedauert hat, bis die Klimaseniorinnen Recht bekommen haben, wirkt abschreckend. Das liegt allerdings hauptsächlich daran, dass sich die Gruppe erst mal durch alle Instanzen klagen musste. Am Ende steht ein Präzedenzfall, der sicherlich Nachwirkungen haben wird.Next: Ölbohrungen stoppenDenn wie jeder gute Präzedenzfall wird auch dieser Folgefälle nach sich ziehen. Sicherlich werden ähnliche Klagen aus anderen der über 40 Länder folgen, die den EGMR anerkennen. Der Weg zu einer erfolgreichen Klage ist nun vorgezeichnet. Zudem hat das Gericht den Fall der Klimaseniorinnen bewusst vor andere Klimaklagen gezogen, um zuerst die juristische Verantwortung von Staaten und die Frage von Klimaschutz als Menschenrecht klären zu können. Ein Fall, der dafür vertagt wurde, ist der einer Gruppe norwegischer Klimaaktivist:innen, die gegen Genehmigungen für Ölbohrungen in Norwegen klagen. Dieser Präzedenzfall könnte damit auch Grundlage für eine Gerichtsentscheidung sein, die Ölbohrungen verbietet. Weitere Klimaurteile könnten also bald folgen.Das Gericht hat aber nicht nur klima-juristische Leitlinien für Europa etabliert, sondern den Klimaschutz zum Menschenrecht erklärt und die Justiz damit als Akteur in Sachen Klimaschutz noch einmal gestärkt. In den USA werden Klagen von Klimagruppen immer wieder mit dem Argument abgewiesen, es handele sich um ein politisches Problem, keine rechtliche Frage. In Zukunft wird es schwieriger sein, das aufrechtzuerhalten, selbst wenn der EGMR dort nicht zuständig ist.Die Entscheidung, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist, das alle betrifft und das Bürger:innen und Aktivist:innen nicht nur von ihren Regierungen fordern, sondern auch einklagen können, konnte nur von einem unabhängigen Gericht getroffen werden, das Regierungen zu kontrollieren und sie für ihre unzureichende Politik zu verurteilen vermag. Effektiver Klimaschutz ist auf demokratische Strukturen angewiesen.