Geleakte NSU-Akte: Wo der Verfassungsschutz versagt hat

Rechtsterror Viel Neues zum NSU steht nicht in der Akte, die Jan Böhmermann und Frag den Staat geleakt haben. Doch wer zwischen den Zeilen liest, entdeckt brisante Details zur Rolle des Verfassungsschutzes
Ausgabe 46/2022
Geschwärzt und geleakt. Den Durchblick zu behalten ist in den NSU-Akten keine leichte Aufgabe
Geschwärzt und geleakt. Den Durchblick zu behalten ist in den NSU-Akten keine leichte Aufgabe

Collage: der Freitag; Material: Stock, Getty Images

Um den internen Prüfbericht des hessischen Verfassungsschutzes zur NSU-Mordserie war zeitweise ein regelrechter Mythos entstanden. Was vor allem daran lag, dass er ursprünglich 120 Jahre, nach heftigen Protesten immerhin noch 30 Jahre unter Verschluss gehalten werden sollte. Die Spekulationen blühten: Welches Geheimnis sollte in der Akte verborgen bleiben? Inzwischen haben die Rechercheplattform Frag den Staat und das ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann das Dokument geleakt und das Geheimnis gelüftet: Der Verfassungsschutz hat bei der Bekämpfung des rechten Terrors versagt! Als hätten wir das nicht schon gewusst.

Wer sich also weitere Aufklärung erhoffte zu den vielen bis heute ungelösten Fragen und Widersprüchen der NSU-Affäre, wird durch die Lektüre der geheim gestempelten Akte enttäuscht. Sie liefert keine Antworten etwa darauf, welche hessischen Neonazis das NSU-Kerntrio beim Morden unterstützten und welche Rolle der Verfassungsschutz bei der Vertuschung etwaiger Kooperation mit den rechtsextremen Terroristen spielte. Dennoch lohnt ein genauerer Blick in die knapp 180 Seiten der Akte, einige interessante Details finden sich.

Formal besteht die NSU-Akte aus dem 17 Seiten umfassenden „Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahr 2012“ und mehreren Anlagen. Darunter befindet sich auch eine Liste mit insgesamt rund 950 Treffern aus der Aktenrecherche, die wiederum Grundlage einer Tabelle mit dem Titel „Bezüge zu Personen des NSU-Umfeldes sowie Bezüge zur szenetypischen Gewaltorientierung von Rechtsextremisten und Hinweise auf Waffenbezüge (legal oder illegal)“ waren. Jedoch ist fast die Hälfte der darin enthaltenen Meldungen aus dem Zeitraum 1. Januar 1992 bis 30. Juni 2012 geschwärzt – was sowohl eine Überprüfung der tatsächlichen Relevanz des Inhalts als auch des Fehlens beziehungsweise der möglichen Unterschlagung wichtiger Informationen durch den Geheimdienst unmöglich macht.

Andreas Temme in Kassel

Laut Abschlussbericht des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) betreffen rund 40 Prozent der 950 Meldungen „Hinweise auf einen legalen oder illegalen Waffen- und Sprengstoffbesitz von Rechtsextremisten“. Informationen zu gewaltorientiertem Verhalten dieser Personen will das LfV gleichwohl nicht gefunden haben – bleibt die Frage, wozu sie dann Waffen und Sprengstoff horteten. Dennoch kam das LfV zum Fazit, in den Akten des Geheimdienstes würden sich „keine Bezüge zu den Rechtsterroristen des NSU und ihren Straf- und Gewalttaten“ finden.

Einschränkend muss man dieser Einschätzung allerdings hinzufügen, dass dem hessischen Verfassungsschutz zum Zeitpunkt seiner Aktenrecherche insgesamt 541 Aktenstücke aus dem Bereich Rechtsextremismus nicht vorlagen, die nach dem Auffliegen des NSU plötzlich abhandengekommen waren. Bis heute konnte nur ein Teil wiedergefunden bzw. rekonstruiert werden. Noch immer werden 201 Aktenstücke vermisst.

Ob sich darunter auch solche zum NSU-Mord in Kassel befinden, kann man nur vermuten. Am 6. April 2006 war Halit Yozgat in einem Kasseler Internetcafé erschossen worden. Während der Mordtat war der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme in dem Internetcafé anwesend, will von dem Geschehen aber angeblich nichts mitbekommen haben. Im Zuge der späteren NSU-Aufklärung stellte sich heraus, dass LfV und Landesregierung eine umfassende Aufklärung dieses bis heute rätselhaften Vorgangs verhinderten.

Puzzleteile ohne Gesamtbild

Auch in der nun geleakten NSU-Akte sucht man im lesbaren, also ungeschwärzten Teil vergeblich nach einer Erwähnung der doch zweifellos erfolgten dienstinternen Recherchen zu dem Vorgang. So taucht der Name Temme lediglich einmal in der Trefferliste auf. Dabei geht es um die Werbung eines V-Manns aus der rechten Szene im Jahr 1999. Der künftige V-Mann habe demnach „einen örtlichen Bezug zu Temme“, heißt es in der Notiz, weil er offenbar aus der Gegend um Temmes damaligen Wohnort Hofgeismar kam. Gleichzeitig wird in der Meldung davor gewarnt, dass dieser V-Mann „eine extremistische Szene steuert bzw. aufbaut!“, was einer Anwerbung der Quelle durch das LfV aber offenbar nicht im Wege stand. Überhaupt kein Eintrag findet sich im lesbaren Teil des Berichts übrigens zu Temmes V-Mann Benjamin Gärtner. Mit ihm hatte der Verfassungsschützer am Tag des Kasseler Mordanschlags kurz vor seinem Besuch im Internetcafé telefoniert, was seinerzeit innerhalb des LfV zu der Vermutung führte, Temme sei von seinem V-Mann in eine Falle gelockt worden.

Einige der wesentlichen Unterstützer des NSU wie etwa der eng mit der hessischen Szene verbandelte Thüringer Neonazi Thomas Gerlach tauchen zwar namentlich in der geleakten NSU-Akte auf; die meisten Meldungen zu diesen Personen sind aber inhaltlich wertlos, da sie nur unwichtige Informationen enthalten und sich mitunter wiederholen. Dasselbe trifft auf rechtsextreme Gruppen wie B&H, Hammerskins und Combat 18 zu, aus deren Reihen das Zwickauer Untergrund-Trio unterstützt wurde. Allerdings sind einige der Meldungen über diese Personen und Gruppen ganz oder in wesentlichen Teilen geschwärzt, sodass sich ein abschließendes Urteil über den damaligen Wissensstand des LfV nicht fällen lässt.

Dennoch – so schätzt es das Antifa-Rechercheportal Exif ein – enthalte die hessische NSU-Akte „durchaus interessante Informationen in Bezug auf den NSU“. Die einzelnen Meldungen seien jedoch vom LfV „nicht als Puzzleteile in einen Gesamtzusammenhang gebracht“ worden, sodass sich in dem Geheimbericht nur Bruchstücke von relevanten Erkenntnissen befinden.

Thorsten Heise in Hessen

Als eines von mehreren Beispielen führt Exif die Einträge über den Thüringer NPD-Chef Thorsten Heise an. Heise, zentrale Führungsfigur der rechtsextremen Szene in Deutschland, taucht in knapp 20 Meldungen in der hessischen NSU-Akte auf. Darunter ist auch eine Notiz über einen umfangreichen Fund von Waffen und Munition während einer Razzia 2003 bei Heise. Dennoch seien das Netzwerk um den Rechtsextremisten und die große Rolle, die er für militante Neonazis in Nord- und Osthessen spielt, sowie dessen vielfältige Verbindungen in das Unterstützerumfeld des NSU im Bericht nicht ansatzweise erfasst, bemängelt Exif. Dabei habe etwa ein langjähriger Vertrauter Heises am Aufbau einer neonazistischen „Untergrundorganisation Nordhessen“ mitgewirkt.

Über diese Gruppe finden sich im geleakten Geheimbericht mehrere Meldungen, unter anderem über Gespräche am Stammtisch der Kasseler NPD, bei der ein Teilnehmer berichtete, „dass eine ‚Untergrundorganisation‘ gegründet werden soll, die dann illegale Aktionen durchführen“ solle. Eine weitere teilweise geschwärzte Meldung vom Juni 1999 berichtet von der Existenz einer überregional vernetzten Untergrundorganisation, von der „einige Dinge … in Kassel geregelt“ werden sollen.

Der Verfassungsschutz hatte also durchaus konkrete Hinweise darauf, dass Neonazis sich bewaffnen und einen Untergrundkampf planen – doch unternommen wurde dagegen offenbar nichts. Die Behörde zeigt sich darob durchaus selbstkritisch: „In der Auswertung erfolgten häufig weder Nachfragen bei Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten“, heißt es im Bericht. Treffender kann man das eigene Versagen nicht beschreiben.

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