„The Bear“ Staffel 2: Die kulinarischen Piraten von Chicago
Streaming Kochen ist Leben und Küchen schaffen Ersatzfamilien mit mindestens so viel Dysfunktionalität wie in echten Familien. Das beweist die großartige zweite Staffel von „The Bear“
Sydney Adamu (Ayo Edebiri) und Carmen „Carmy“ Berzatto (Jeremy Allen White) in „The Bear“
Foto: Disney+
Man sieht es aktuell an diesem Barbie-Ding: Ein Kulturphänomen kreiert seinen eigenen Code, der sich als Selbstläufer ausbreitet und zu einer Art Erkennungszeichen wird. Mit irgendwas in Rosa outet man sich weniger als Fan des Films denn als so etwas wie „aktiver Zeitgenosse“, Augenzwinkern inbegriffen. Auch die Serie The Bear inspirierte mit der ersten Staffel im vergangenen Jahr (Disney+) eine Form von Geheimsprache, wenn sie auch erheblich kleinere Kreise zog. Hier waren es Aussprüche wie „Yes, Chef!“ oder „Behind!“, mit denen man unter Eingeweihten glänzende Augen hervorrufen konnte. Wenn sich solche Details einprägen, spricht das unbedingt auch fürs Ganze.
Das Ganze kann wie im Fall von The Bear zuerst eher unscheinbar w
e Bear zuerst eher unscheinbar wirken, worin die Serie etwas gemein hat mit dem Ort ihrer Handlung, einem Imbiss-Restaurant in Chicago. In der ersten Staffel hieß selbiges noch „The Original Beef of Chicagoland“ und war keine Stätte des „fine dining“. Als Spezialität des Hauses galt das „Italian Beef“-Sandwich, das neben der berüchtigten „Deep Dish Pizza“ zu Chicagos kulinarischen Ikonen gehört.Die acht Folgen der ersten Staffel erzählten davon, wie der junge Starkoch Carmen „Carmy“ Berzatto (Jeremy Allen White) aus einem New Yorker Sternerestaurant zurück in seine Heimatstadt kommt, um das „Original Beef“ zu managen, besagtes Sandwich-Lokal, das seinem älteren Bruder Mikey (Jon Bernthal) gehörte. Es war seine Form der Trauerbewältigung, denn Mikey hatte Selbstmord begangen und in finanzieller wie menschlicher Hinsicht ein ziemliches Chaos hinterlassen. Während Carmys Schwester Natalie (Abby Elliott) nichts mehr mit dem Laden zu tun haben wollte und „Onkel Jimmy“ (Oliver Platt) erpicht war, die Viertelmillion Dollar wiederzubekommen, die er Mikey geliehen hatte, rang die Küchencrew mit dem Verlust eines von allen sehr geliebten Chefs und den ehrgeizigen Plänen, die sein kleiner Bruder nun versuchte durchzusetzen.So real, dass der eigene Blutdruck vom Zusehen steigtDie erste Staffel aber war so viel mehr als die altbekannte Fabel eines Neubeginns nach tragischen Ereignissen. Während die einzelnen Folgen immer wieder krisenhafte Momente in der Restaurantküche abbildeten – eine davon zeigte den Stress so real, dass man förmlich den eigenen Blutdruck steigen spürte –, wurde ein kompliziertes Netz an Beziehungen und Personen vorgestellt. Da gab es die Kernfamilie Berzatto, nach Mikeys Tod reduziert auf das Geschwisterpaar Carmy und Natalie und seine Wahlverwandtschaft: besagter „Onkel Jimmy“, der als alter Freund des verstorbenen Vaters eingeführt wurde, und „Cousin Richie“ (Ebon Moss-Bachrach), der sich als Mikeys bester Kumpel und langjähriges Anhängsel der Familie mit Veränderungen besonders schwertat.Und da war die Küchencrew, die ähnlich wie es Anthony Bourdain in seinem Bekenntnisbuch Kitchen Confidential beschreibt, eher der Besatzung eines Piratenschiffs als einer Restaurantbelegschaft gleicht: bunt zusammengewürfelt, abgebrüht und immer mit einem schnellen Fluch auf den Lippen. Neuzugang Sydney (Ayo Edebiri) hatte das CIA (das „Culinary Institute of America“) abgeschlossen und bereits ein Restaurant in den Sand gesetzt. Latina-Migrantin Tina (Liza Colón-Zayas) hing sehr an Mikey und war nur schwer zu Reformen in ihrer Küche zu überreden. Somali-Flüchtling Ebrahim (Edwin Lee Gibson) brachte in unpassenden Momenten seine Bürgerkriegserfahrung ein, und Bäcker Marcus (Lionel Boyce) verliebte sich ein bisschen zu sehr in seinen neuen Job als „Patissier“.Plot gab es gar nicht so besonders viel: Carmy organisierte die Küche um, die Crew zog nur mühsam mit, es gab Konflikte und Handgemenge, es wurde um Altschulden und Neufinanzierung gerungen, mit Nahrung geworfen und fast der Laden in Brand gesteckt. Am Ende stand das Vorhaben, das Lokal zu renovieren, es in „The Bear“ (ein in der Berzatto-Familie verbreiteter Kosename) umzubenennen und als Restaurant mit Ambition auf Michelin-Stern wiederzueröffnen.Dafür war die Serie umso reicher an Story. Wie Tinas Abwehr gegen das Neue in Anhängerschaft für Sydney umschlägt. Wie Carmy mit seinen Gefühlen für den verstorbenen Bruder ringt. Wie Richie alle nervt, vielleicht am meisten sich selbst. Besonders aber erzählte sie vom Stressberuf Koch als Tätigkeit mit Suchtcharakter. Die harten Arbeitsbedingungen – frühes Aufstehen, Fließband-ähnliches Zusammenarbeiten auf engstem Raum bei hoher nervlicher Belastung und erheblichem Verletzungsrisiko – erzeugen eine Art Bergarbeiterstolz, aus dem Identität wird. Dass sich hier alle gegenseitig, als Zeichen des Respekts, mit „Chef“ anreden, ist ein Ausdruck davon.Mehr als nur KüchenlingoThe Bear, soeben ausgezeichnet mit 13 Emmy-Nominierungen, wurde zum Hit, weil die Details so stimmig waren, von den Chicago-Realien des Settings angefangen über die zunächst fast unverständliche Küchenlingo bis hin zu den beiläufigen Dingen, die zur Charakterisierung der Figuren eingesetzt wurden. Vor allem in Letzteren zeigte sich, dass dem Serienschöpfer Christopher Storer nicht nur wichtig war, das Milieu authentisch zu beschreiben, sondern dass er auch ein meisterhafter Erzähler ist, der die Freiheiten des Serienformats – die Folgen schwanken in der Länge von 20 bis 66 Minuten – souverän auszureizen weiß.In der zweiten Staffel wird diese Meisterschaft im subtilen Erzählen noch sichtbarer. Wieder tut sich im Plot gar nicht so viel: Carmy und seine Truppe überreden Onkel Jimmy dazu, weiteres Geld zu investieren; für den Umbau machen sie den Laden erst mal ganz dicht und schicken Marcus, Richie, Tina und Ebrahim auf Praktika in andere Sternerestaurants oder zur Schulung. Nebenbei wird ein Teil des Bau- und Genehmigungselends (Schimmelwände, Alkohollizenz, Brandschutz) durchdekliniert, das die Restaurateure durchzustehen haben.Eingebetteter MedieninhaltOhne laufenden Küchenbetrieb sind die neuen Folgen auch für den Zuschauer weniger stressig. Mehrere Episoden konzentrieren sich auf je einzelne Personen und besitzen eine fast meditative Schönheit: Marcus macht ein Patissier-Praktikum in Kopenhagen, wohnt auf einem Boot, füttert eine unsichtbare Katze und erlebt sich als „European Marcus“ neu. Auch Sydney, Tina und die anderen erleben Dinge jenseits des „Original Beef“, was ihren Zusammenhalt in eine gewisse Spannung bringt.Das Restaurantbusiness: Eine LiebesgeschichteKonflikte explodieren lässt die Serie erst in einer späteren Folge, in der es fünf Jahre zurückgeht, zu einem früheren Weihnachtsabend der Familie Berzatto, wo eine nah-psychotische Mama (Jamie Lee-Curtis) für eine breite Gesellschaft aus echter und Wahlverwandtschaft (verkörpert von einem überraschend prominenten Ensemble unter anderem mit Bob Odenkirk) kocht. Mit grandioser, atemloser Nähe gefilmt, geht es laut und unbeherrscht zu, mit viel Gelächter, Angeberei und Streit, mit Momenten der Rührung – und solchen der absoluten Überforderung. Wer selbst schon Großfamilienfeiern mitgemacht hat, sei vor Retraumatisierung gewarnt.Die schönste der Folgen aber gehört Richie, diesem nervigen Typ, den jeder aus dem eigenen Leben irgendwie kennt: der nerdig-treue Freund mit Ridley-Scott-Obsession, dessen Ehe gescheitert ist, der es nie zu etwas gebracht hat, ein Spezialist für alles und für nichts, immer zuverlässig da, aber genauso zuverlässig ein Chaot. Was ist eigentlich die Aufgabe von Richie?, hatte Sydney schon in der ersten Staffel gefragt, und in den neuen Folgen fragt Richie sich selbst das. Die Angst, abgehängt zu werden, sitzt ihm im Nacken, nur widerwillig tritt er das Praktikum an, das ihm Carmy im „besten Restaurant der Welt“, das sich praktischerweise in Chicago befindet, vermittelt. Dort muss er erst mal endlos Gabeln polieren, was Richie als der abgebrühte Küchenpirat, der er ist, grummelnd erledigt. Aber dann erlebt er eine Offenbarung – seiner eigenen Talente.Und wieder sind es die Details, die Richies Epiphanie zu einer so mitreißenden Folge machen, dass man sie im Dauerloop schauen könnte: Es beginnt mit Groundhog-Day-artigem morgendlichen Erwachen, einem übermüdeten Richie-Gesicht im Spiegel, seiner ersten Zigarette im Auto noch bei Dunkelheit. Aber dann kommt die Erkenntnis, dass ein Anzug (Männer!) eine Rüstung sein kann, dass Ordnung Strukturiertheit bringt – und dass er, Richie, ein gutes Auge dafür hat, Leute zu bedienen. Zu Taylor Swift grölend brettert er schließlich durch Chicago, und nie hat man einer Serienfigur mehr geglaubt: Er und das Restaurant-Business, wir und diese Serie – „It’s a love story!“Placeholder infobox-1