„Rezitativ“ von Toni Morrison: Brandaktuelles Verwirrspiel

Kurzgeschichte Erstmals 1993 erschienen und jüngst wiederentdeckt: Toni Morrisons „Rezitativ“. Die einzige Kurzgeschichte der ersten afroamerikanischen Literaturnobelpreisträgerin ist ein geniales Verwirrspiel
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 21/2023
Die Literaturnobelpreisträgerin von 1993, Toni Morrison (1931 – 2019) im Jahr 1979
Die Literaturnobelpreisträgerin von 1993, Toni Morrison (1931 – 2019) im Jahr 1979

Foto: Jack Mitchell/Getty Images

Toni Morrison haben Fragen der Fremdzuschreibung, der Gewalt, des Ausschlusses, aber auch Fragen der Selbstermächtigung in ihrem Schreiben von jeher interessiert, ja, interessieren müssen. Ihre Romane gehen an gegen diese Zuschreibungen, gegen den Ausschluss, gegen die Gewalt, indem sie Figuren entwickeln, die, dem Leben ausgeliefert, sich ihm doch nicht bereitwillig oder willenlos überlassen. Als die 1931 in Lorain, Ohio, Geborene zwei Jahre alt war, setzte der Vermieter ihres Elternhauses dieses kurzerhand in Brand, weil der Vater mit der Miete im Rückstand war. Die Familie befand sich im Haus. Morrison konnte sich selbst nicht daran erinnern, wie sie 1993, am Tag nachdem sie den Nobelpreis erhalten hatte, der Washington Post erzählte, ebenso wenig daran, dass der Vater lachte, anstatt zornig zu werden. Dennoch dürfte sich etwas davon auch in ihrem Unbewussten niedergeschlagen haben.

Diese Episode aus Morrisons Leben ist so schockierend, wie sie signifikant ist als eine, in der eine traumatische Erfahrung so ins Lächerliche gezogen wird wie in den Stücken Samuel Becketts, in denen die Einzelnen „trotz allem“ noch Scherze machen. Signifikant ist die Episode, weil sie die Entschiedenheit zeigt, mit der auch Morrisons Vater offensichtlich nicht bereit war, sich zum Opfer degradieren zu lassen. Auch wer ausgeliefert ist, kann die Dinge zu wenden versuchen – eine Erfahrung, die sich beim Lesen von Morrisons Werk immer wieder machen lässt: „Du hast es in der Hand, ob der Vogel lebt oder tot ist“, sagt auch die weise blinde Alte in Morrisons Nobelpreisrede, als ein Kind mit einem Vogel in der Faust die Alte raten lässt, ob der lebendig oder tot sei. Morrison vergleicht den Vogel mit der Sprache, deren Lebendigkeit davon abhänge, wie mit ihr umgegangen wird.

Rezitativ, neben elf Romanen die einzige Erzählung der 2019 gestorbenen Autorin, begonnen im Jahr 1980, liegt erstmals in deutscher Übersetzung durch Tanja Handels und mit einem klugen Nachwort von Zadie Smith vor. Die Erzählung bündelt wie unter einem Brennglas viele der Themen von Morrisons Schreiben.

Sie beginnt im Waisenhaus St. Bonaventura, wo die Ich-Erzählerin Twyla und die gleichaltrige Roberta für vier Monate untergebracht werden und sich ein Vierbettzimmer teilen. Die Mädchen sind acht Jahre alt, und sie sind nicht etwa in St Bonny’s, weil sie „richtige Waisen mit lieben verstorbenen Eltern wären“. Von Robertas Mutter wird gesagt, sie sei krank, Twyla ist im Heim, weil ihre Mutter „die ganze Nacht tanzt“.

Die beiden Mädchen sind, anders als die Waisen, Außenseiterinnen. Und sie unterscheiden sich voneinander in ihrem Äußeren: „Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann auch noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe!“, empört sich Twyla. Roberta stellt sich aber schnell als „schwer in Ordnung“ heraus und sie werden Freunde, die nebeneinander „wie Salz und Pfeffer“ aussehen. Sie halten zusammen gegen die größeren Mädchen, aber auch das: Die beiden hänseln wie die anderen die taube Aushilfskraft Maggie.

Nachdem Roberta und Twyla das Heim wieder verlassen haben, begegnen sie sich in zeitlichem Abstand mehrmals wieder: einmal in einem Schnellrestaurant in Newburgh, wo Twyla in der Küche arbeitet. Roberta, mit „Haaren so voll und wild“, dass ihr Gesicht kaum zu erkennen ist. Offensichtlich auf Drogen, ist sie mit zwei Jungen zu einem „Termin mit Hendrix“ unterwegs. Als Twyla zu erkennen gibt, Hendrix nicht zu kennen, ist Roberta herablassend amüsiert.

Die dritte Begegnung findet statt im Supermarkt. Roberta ist „aufgedonnert“, „ihr wildes Haar nun glatt“. Sie hat inzwischen wie Twyla geheiratet, anders als Tywlas Mann ist ihrer so wohlhabend, dass Roberta sogar einen Chauffeur hat. Die Begegnung fällt freundlicher aus, doch Roberta erzählt Twyla, sie hätten damals beide zugesehen, wie Maggie im Heim von den älteren Mädchen verprügelt worden sei.

Beim vierten Treffen begegnen sich Roberta und Twyla im Rahmen einer Demonstration. „Unruhen zwischen Schwarz und Weiß“, heißt es bei Morrison lapidar, und Twylas Sohn Joseph soll deshalb mit vielen anderen Kindern an eine andere Schule versetzt werden. Man geht dagegen auf die Straße, auch Roberta ist unter den Demonstrierenden. Sie erzählt Twyla diesmal, Maggie sei damals im Heim verprügelt worden, weil sie schwarz war, und sie und Twyla hätten mitgemacht.

„Die einzige Kurzgeschichte, die ich je geschrieben habe, Rezitativ, war ein Experiment, der Versuch, in einer Erzählung mit einer schwarzen und einer weißen Figur, für die ihre mit ihrer Race verbundene Identität von grundlegender Bedeutung ist, alle rassifizierenden Codes wegzulassen“, schreibt Toni Morrison in dem Essay Im Dunkeln spielen, der im Juni in der deutschen Übersetzung erscheint.

Und sie lässt uns teilhaben an diesem Experiment, besser gesagt, werden wir zu „Testratten“. Denn die Frage, wer von beiden, ob Roberta mit ihrem wilden Haar oder Twyla mit den einfachen Jobs und der nachts tanzenden Mutter, denn nun schwarz oder weiß ist, lässt Morrison bewusst offen.

Die Muster des Racial Profiling

Zadie Smith thematisiert in ihrem Nachwort zu Rezitativ – der Titel verweist auf die handlungskommentierenden Bruchstücke einer Geschichte in einem Singstück, einer Oper oder einem Oratorium –, dass man im Lauf der Erzählung immer wieder neu vor dieser Frage stehe. Die Unmöglichkeit, Robertas oder Twylas Identität derart festzulegen, lege die Muster des Racial Profiling offen. Man wolle es nicht hinnehmen, diese Festlegung nicht treffen zu können, sehne sich nach den Schubladen, in die man die disparaten Merkmale beider Figuren so einsortieren kann, dass eine Ordnung hergestellt, ein Weltbild gefestigt werden kann.

Anhand der stummen Maggie „mit den O-Beinen und der Kindermütze mit den Ohrenklappen“ dagegen, von der Roberta am Ende der Erzählung behauptet, sie sei schwarz gewesen, woran Twyla sich nicht erinnert, und die, wie Roberta und Twyla, eine marginalisierte Figur im Kosmos des Kinderheims ist, führt Morrisons Erzählung vor, was Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung im Zusammenhang mit dem Antisemitismus unter den Begriff „pathische Projektion“ fassten. Dieser vollkommen unreflektierte Abwehrmechanismus des psychischen Apparates des Individuums bezüglich seiner Schwachstellen, die auf andere übertragen und an ihnen verachtet und bekämpft werden, entlädt sich an der wehrlosen Maggie, die stillgestellt ist im wahrsten Sinne des Wortes: „,Und was ist, wenn jemand sie umbringen will?‘ Das fragte ich mich damals oft. ,Oder wenn sie weinen muss. Kann sie weinen?‘ ,Klar‘, sagte Roberta. ,Aber nur Tränen. Töne kommen keine.‘“

Die Wucht dieser Erzählung verdankt sich aber nicht allein dem so simplen wie genialen Experiment, mit dem Morrison nicht nur Möglichkeiten der Zuschreibung verweigert und das Grundmuster der pathischen Projektion als Grundlage des Rassismus vorführt, sondern es ist auch die bis zur Lakonie einfache und klare Sprache, mit der sie es tut: „Wir konnten von Bett zu Bett wechseln, wenn wir wollten. Und ob wir wollten!“, heißt es gleich zu Beginn der Erzählung, als Roberta und Twyla zu zweit im Vierbettzimmer untergebracht werden. Da ahnt man noch nichts von der Lust am „Wechsel der Betten“ im Sinne eines Spiels mit Identität. Es ist auch die bewegliche Sprache, mit der die Erzählung nach Irrwegen der Erinnerung, nach Grundlagen von Solidarität und Freundschaft fragt, die sie eben nicht zu einem didaktischen und holzschnitthaften Text werden lässt.

Obwohl die Erzählerin mehr weiß als ihre Figuren und ihre Leser, verlässt sie sich auf deren und unsere Fähigkeit zum Nachdenken, zum Überprüfen unserer Denk- und Redegewohnheiten. Morrisons Vertrauen auf Autonomie, die ihrer Figuren und unsere, macht diese Erzählung erst zur Pflichtlektüre für alle, die von einer vorurteilsfreien Welt nicht nur träumen wollen.

Rezitativ Toni Morrison Tanja Handels (Übers.), mit einem Nachwort von Zadie Smith, Rowohlt 2023, 96 S., 20 €

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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