Bei Netflix kocht der Kapitalismus

Fernsehen Dokumentationen trüben unsere Vorstellungen von der Arbeitswelt. Brauchen wir einen Streamingdienst für das Proletariat?
Ausgabe 16/2019

Netflix könnte sich, wenn man das Ganze mal nicht allzu kritisch betrachtet, als Revolutionär inszenieren. Nicht nur, was den Medienkonsum im Allgemeinen angeht – immerhin hat die Streaming-Plattform die Art und Weise, wie wir Filme und Serien konsumieren, fundamental verändert. Sondern auch hinsichtlich der Inhalte. Recht auffällig ist das beim Genre der Kochsendungen, die bei Netflix so gar nichts mehr mit den Studioküchen aus dem deutschen Nachmittagsprogramm zu tun haben.

Stattdessen zeichnen sich Sendungen wie Chef’s Table, Ugly Delicious oder Salz. Fett. Säure. Hitze nicht nur durch die perfekt dem Zeitgeist entsprechende Ästhetik aus, sondern inszenieren neben den Speisen vor allem auch die Köchinnen und Köche, ihre Lebenswege, ihre Überzeugungen, die oftmals auch über die bloße Liebe zum Kochen und zu den einzelnen Zutaten hinausgehen und einen Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge wagen.

Bitte nicht falsch verstehen, diese Sendungen sind sehenswert, die Protagonisten haben viel Interessantes zu sagen, und erst das Essen … Und dennoch lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und sich einmal anzusehen, was da eigentlich geschieht: Es ist die Inszenierung eines sicherlich beeindruckenden Berufes, der jedoch mit der Lebensrealität vieler Menschen wenig zu tun hat. Die Protagonisten sind Sterneköche, und bei denen dürfte ein Großteil der Netflix-Abonnenten eher selten einkehren. Durch die Form der Inszenierung wird der Beruf dennoch einerseits glorifiziert und mystifiziert, andererseits Identifikation geschaffen.

Das passiert freilich nicht nur bei Kochsendungen. Da ist zum Beispiel die Dokuserie formula 1, bei der Rennstallmanager, Rennfahrer oder Techniker ähnlich dargestellt werden. Das Format 7 Days out – World’s biggest Events verspricht: „Erleben Sie das Drama hinter den Kulissen in der Woche vor einigen der weltweit wichtigsten Großveranstaltungen in den Bereichen Sport, Mode, Raumfahrt und Haute Cuisine.“ Man erlebt also den Druck, der beim Kentucky Derby auf Jockey, Pferd und Trainer lastet, man erlebt den Stress, unter dem das Kreativteam von Chanel vor der Paris-Fashion-Week steht.

En passant werden durch Formate wie diese unsere Vorstellungen von Arbeit beeinflusst. Es ist die Erzählung der absoluten Sinnerfüllung durch den Beruf, der Arbeit als Lebenszweck, aber auch der Moral, dass man nur durch harte Arbeit an sein Ziel gelangt. Es ist die Erzählung von Tellerwäscher und Millionär, wobei man sich auf die Darstellung des Millionärs beschränkt. Denn zelebriert werden freilich nur ausgewählte Berufe, deren gesellschaftliche Notwendigkeit oftmals zumindest hinterfragt werden kann. Durch ihre Inszenierung werden sie mit dem Prädikat „besonders erstrebenswert“ versehen.

Nur, was ist mit den Tätigkeiten, die durch das Hochglanzraster fallen, zugleich aber den Großteil der Gesellschaft betreffen? Was ist mit den Supermarktverkäuferinnen, was mit den Pflegekräften, was mit den Sozialarbeitern? Hätten diese Berufe nicht auch einmal die Hochachtung der Netflix-Inszenierung verdient? Würde das nicht gar unseren Blick auf gesellschaftliche Probleme viel besser schärfen?

Vielleicht könnte genau das schon bald Wirklichkeit werden. Derzeit sammeln linke Filmemacher aus Chicago Geld für einen neuen Streamingdienst, Means TV, bei dem Geschichten aus der und für die Arbeiterklasse zu sehen sein sollen, allerdings – so lässt es zumindest ein Trailer vermuten – in astreiner Netflix-Ästhetik. Man kann ihnen nur alles Glück wünschen. Denn solche Erzählungen hätten mit Revolution vermutlich dann doch noch etwas mehr zu tun.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

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