Einmal enteignen, bitte

Volksentscheid Berlin hat sich überdeutlich und in fast allen Bezirken für die Vergesellschaftung von Wohnraum ausgesprochen. Jetzt muss „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ weiterkämpfen
In Berlin war die Initiative in den Wochen vor der Abstimmung gut sichtbar
In Berlin war die Initiative in den Wochen vor der Abstimmung gut sichtbar

Foto: Paul Zinken/Afp via Getty Images

Man muss es sich wohl noch einmal selbst in aller Deutlichkeit vorsagen, um wirklich zu begreifen, was da gestern in Berlin passiert ist: Eine Mehrheit von 56,4 Prozent hat beim Volksentscheid dafür gestimmt, „Deutsche Wohnen & Co. zu enteignen“. Oder anders: über eine Million Berliner:innen haben den Berliner Senat aufgefordert, ein Gesetz zu erarbeiten, das die rund 240.000 Wohnungen großer Immobilienkonzerne wie Vonovia, Akelius oder eben Deutsche Wohnen gegen eine Entschädigung weit unter Marktwert vergesellschaftet, wie es Artikel 15 des Grundgesetzes vorsieht.

Es ist der dritte Akt dieser Erfolgsgeschichte, der begonnen hatte mit den rund 70.000 gesammelten Unterschriften für die Einleitung eines Volksbegehrens, obwohl 20.000 gereicht hätten. Rückblickend hatte man schon damals ahnen können, dass dieser Volksentscheid besonders werden würde. Zu groß die alltägliche Belastung vieler Mieter:innen in der Stadt, zu groß die Wut auf ein System, das den einen Dividenden verspricht, während andere weit über 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete zahlen müssen. Die herausragende Stellung, die das Thema Wohnen in Berlin einnimmt, hat sich auch in der zweiten Phase der Unterschriftensammlung gezeigt. 350.000 Unterschriften reichte die Kampagne ein, mindestens 180.000 davon waren gültig.

Anders als Kühnert

Doch vermutlich hatten auch nach diesem bemerkenswerten Erfolg einige nicht daran geglaubt, dass der Volksentscheid tatsächlich erfolgreich sein würde. Einige mögen gedacht haben, dass die Wähler:innen an der Urne der Mut verlassen würde, so wie es zum Beispiel bei Kevin Kühnert der Fall gewesen war. Der hatte als Juso-Vorsitzender lange mit Vergesellschaftungsgedanken allgemein kokettiert, um nun kurz vor dem Abstimmungstermin anzukündigen, mit „Nein“ stimmen zu wollen. Womöglich hatte die Berliner SPD gehofft, mit dem Kauf von knapp 15.000 Wohnungen von Vonovia und Deutsche Wohnen der Enteignungskampagne den Wind aus den Segeln zu nehmen. Beides ist nicht der Fall gewesen.

Stattdessen steht nun ein Ergebnis, das die Debatte auf eine völlig neue Ebene hebt. Die professionell organisierte Kampagne, mit ihren vielen Unterstützer:innen, die bis zuletzt unterwegs waren, um für die Vergesellschaftung zu werben, hat es geschafft eine radikale Forderung in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Denn die Mehrheit beim Volksentscheid macht es endgültig unmöglich, die Pläne als ein linkes Nischenprojekt darzustellen, das von der Mehrheit der Menschen nicht mitgetragen würde. Das Gegenteil ist der Fall – jetzt offiziell mit Brief und Siegel.

Diese Mehrheit speist sich nicht nur aus Bezirken wie Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, in denen „das urbane Milieu“ zu Hause ist. In allen Bezirken außer Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf haben die Menschen mehrheitlich für die Vergesellschaftung gestimmt. Hier handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Projekt.

Jetzt gegen Giffey

Nun muss sich der neue Senat dazu verhalten. Wahlsiegerin Franziska Giffey lehnt den Volksentscheid ab. Tatsächlich ist sie nicht daran gebunden. Das würde jedoch bedeuten, bewusst gegen den Willen der Berliner:innen zu handeln. Die wurden schließlich nicht von irgendwelchen leeren Versprechungen verführt. In den vergangenen Jahren wurde intensiv und mit diversen Gutachten über das Volksbegehren gestritten, die Immobilienwirtschaft hat keine Chance ausgelassen, vor dem real existierenden Sozialismus und einstürzenden Altbauten zu warnen. Und trotzdem hat es für eine Mehrheit gereicht. So sieht ein demokratischer Prozess aus. Sich dem zu verweigern ist das genaue Gegenteil.

Mit den Gutachten, den Rechtsfragen und schließlich vermutlich Klagen wird es fürs erste weitergehen. Das wird Monate, vielleicht sogar Jahre dauern. Dass den Berliner:innen der Atem ausgeht ist indes unwahrscheinlich. Die grundlegende Not, sie bleibt schließlich. Hinzugekommen ist nun allerdings eine Erzählung von Bürger:innen, die sich damit nicht abfinden. Das kann Signalwirkung haben. Einerseits an andere Städte auf der ganzen Welt, die ähnliche Probleme haben. Andererseits aber auch für die gesellschaftliche Linke in Deutschland. „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ hat gezeigt, wie eng verschiedene Formen der Diskriminierung zusammenhängen – und dass sich die wirkmächtigste Antwort darauf finden lässt, wenn man sich zusammentut. Am Ende war dieser Ansatz verantwortlich für den einzigen Linksrutsch, den wir gestern gesehen haben.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

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