True-Crime-Podcasts: Wenn der „Coldest Case“ nur noch kalter Kaffee ist

Podcasttagebuch Die erste Staffel des Podcasts „Serial“ von 2014 ist legendär. Sie beflügelte den Podcast-Hype auch in Deutschland. Was folgte, war eine Schwemme schwer erträglicher True-Crime-Formate. Jetzt enttäuscht selbst die jüngste Serial-Staffel
Ausgabe 26/2023
Ein einsames Haus in Laramie, Wyoming. Leider nicht ganz so spannend
Ein einsames Haus in Laramie, Wyoming. Leider nicht ganz so spannend

Foto: Spencer Platt / Getty Images

Ich liebe es, mir Dinge aufzuheben. Bei einer Pizza zum Beispiel esse ich zuerst den Rand, weil es danach nur noch „Kaiserbissen“ gibt – so haben wir das bei uns in der Familie immer genannt. Welche tiefere Psychologie dahintersteckt? Vielleicht hat es mit Selbstbetrug zu tun – man schreitet einfach beschwingter durch die Welt, wenn man weiß: Da warten noch ein paar Highlights auf mich. Oder es ist protestantisches Arbeitsethos, das mich die besonderen Dinge für aufschiebbaren Luxus halten lässt. Jedenfalls bin ich permanent damit beschäftigt, mir irgendetwas für später aufzuheben. Zum Beispiel auch Podcasts.

Neulich hatte ich wieder so einen Fall. Denn The Coldest Case in Laramie, die jüngste Produktion von Serial Productions, das inzwischen zur New York Times gehört, ist schon im Februar erschienen. Ich aber habe mir alle acht Folgen aufgehoben, weil ich auf ein Highlight spekuliert habe. Serial-Podcasts sind oft besonders. Sie haben eine eigene Art zu erzählen, sie sind hervorragend produziert, haben einen eigenen Sound (meint auch den Soundtrack) – und sie sind nicht nur spannend, sondern wagen einen Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft und ihre Abgründe.

Es war also alles angerichtet – für diesen Podcast-Kaiserbissen. Allein, es gibt ein Problem bei der Aufheberei. Die Enttäuschung ist groß, wenn das Highlight keines ist, sondern einfach nur „in Ordnung“. Und genau das ist The Coldest Case in Laramie.

Dabei ist die Grundanlage so Serial-haft wie nur möglich. Ein Mord in den 1980er Jahren: Eine junge Frau, Shelli Wiley, wird brutal erstochen und ihre Wohnung in Brand gesteckt. Die New-York-Times-Reporterin Kim Barker begibt sich auf Spurensuche in der Kleinstadt Laramie in Wyoming. Sie selbst hat dort Teile ihrer Jugend verbracht und beschreibt den Ort als schrecklich. So erinnert auch das Setting an frühere Serial-Produktionen, in denen es oft um die USA abseits der glitzernden Bilder von New York oder L.A. geht. Und schließlich ist der Ausgangspunkt des Spannungsbogens ein Zweifel an der Täterschaft. Denn wer Wiley ermordet hat, ist nicht bekannt.

Dabei gibt es einen Verdächtigen: Fred Lamb, einen ehemaligen Polizisten. Obwohl scheinbar viele Indizien gegen ihn sprechen, wird er nicht angeklagt. Es wirkt so, als deckte die Polizei da einen der ihren. Gleichzeitig sind die Ermittlungen – diesen Aspekt arbeitet Kim Barker hörenswert heraus – von Sexismus und Rassismus geprägt, von Vorverurteilungen, mit denen ein Polizist nicht zu kämpfen hat.

Alte Wunden werden aufgerissen, Verdächtigungen angestellt, Grauenvolles ausgebreitet

Doch in die Tiefe geht das alles nicht. Stattdessen werden vor allem die Ermittlungen mit viel Verhörmaterial rekonstruiert. Und so überwiegt am Ende ein ungutes Gefühl, das oft mit True-Crime-Formaten einhergeht und über das die Serial-Produktionen lange erhaben waren: Da werden alte Wunden aufgerissen, Verdächtigungen angestellt und Grauenvolles in einem Unterhaltungsformat ausgebreitet, ohne viel neue Erkenntnis. Da hilft der beste Erzählsound nichts.

Fast fühlt es sich wie das Ende einer Ära an. Das Serial-Konzept scheint etwas in die Jahre gekommen zu sein. Dabei war es einst bahnbrechend: Die erste Staffel hat 2014 auch in Deutschland der Podcast-Hype beflügelt. Auf den Hype folgte hierzulande dann allerdings eine Schwemme an True-Crime-Formaten, die fast alle – anders als The Coldest Case in Laramie – nicht „in Ordnung“, sondern schier unerträglich sind. Ein paar weniger davon, das wäre ein echtes Highlight, auf das ich noch warte.

Benjamin Knödler ist Redakteur des Freitag und schreibt alle vier Wochen in seiner Kolumne Podcasttagebuch über neue Podcasts und die Szene dahinter

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

Benjamin Knödler

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