„All right. Good night.“ von Helgard Haug: Du musst doch hier irgendwo sein

Verlust In dem Debüt „All right. Good night.“ der vielfach ausgezeichneten Regisseurin Helgard Haug verbindet sie die Demenz ihres Vaters mit Flug MH370. Ein Buch, das kunstvoll und eigensinnig das Verschwinden und seine Auswirkungen untersucht
Ausgabe 33/2023
Auf den ersten Blick haben Flugzeugabsturz und Demenzerkrankung nicht viel gemeinsam...
Auf den ersten Blick haben Flugzeugabsturz und Demenzerkrankung nicht viel gemeinsam...

Foto: IMAGO/Panthermedia

Am einen Tag lobt er generös die Pflegerinnen, am nächsten zeigt er von der Terrasse aus auf die Häuser der Siedlung, die er selbst geplant haben will. Wüsste man es nicht besser, man könnte diesen Herrn der großen Gesten tatsächlich für einen Chefarzt oder Architekten halten. Nur liegen die Fakten ganz anders, leidet der Mann doch unter altersbedingtem Gedächtnisschwund. Wie aus dem einst so wortgewandten Pfarrer binnen acht Jahren ein orientierungsloser Pflegeheimbewohner wurde, zeichnet Helgard Haug in ihrem berührenden Debüt All right. Good night. nach – es ist die Geschichte ihres eigenen Vaters.

Gewiss, als gänzlich neu erweist sich das Thema nicht. Im Laufe der vergangenen Jahre hat sich mit dem Demenz-Roman ein kleines, aber feines Genre etabliert. Dazu gehören Werke wie Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011) oder Helga Schuberts Der heutige Tag (2023). Neben der oft autobiografisch inspirierten Schilderung der eigenen Überforderung stellt die Sprachkrise ein verbindendes Element dar. So auch bei Haugs Vater. Trällert er zu Beginn noch auf den Fluren „Auf der Mauer, auf der Lauer sitzt ’ne kleine Wanze. Seht euch nur die Wanze an, wie die Wanze tanzen kann!“, bekommt er gegen Ende nur noch „Wan tan“ raus. Und da die Tragödie kaum auszuhalten ist, gibt die Tochter (wie auch die anderen SchriftstellerInnen) dem Humor ein wenig Raum – etwa wenn sie berichtet, wie der Demente dreimal dieselbe Geburtstagsrede hält und alle anderen stets eine ahnungslose Miene aufsetzen.

Haug war bisher vor allem als Mitbegründerin des Theaterkollektivs Rimini Protokoll bekannt. Das Trio, zu dem neben Haug noch Daniel Wetzel und Stefan Kaegi gehören, das aber in wechselnden Konstellationen arbeitet, hat sich mit Dokumentartheater einen Namen gemacht. Tatsächlich beruht auch Haugs Roman auf einem gleichnamigen Stück, das im Dezember 2021 am Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) Premiere hatte. Es wurde damals positiv aufgenommen, so schrieb der Theaterkritiker Janis El-Bira auf nachtkritik.de, der Text gehöre „zu den schönsten und berührendsten, durchaus auch traurigsten dieses Theaterjahres“. Die Jury des Berliner Theatertreffens sah das wohl ähnlich und lud die Inszenierung 2022 ein.

Ein Archiv verebbter Stimmen

Mit der Umwandlung ihres Stoffs in einen Roman schreibt Haug einerseits die Tradition des Demenz-Romans fort. Andererseits geht die Komposition ihres Romans weit über die Genregrenzen hinaus. Wo andere in der Problematisierung beispielsweise von schwindendem Wortschatz stehenbleiben, sucht sie nach einer Großanalogie für den Abbau des Vater.

Der Coup liegt in der metaphorischen Verbindung mit dem zum Mysterium gewordenen Absturz des Passagierflugzeugs MH370, das im Frühjahr 2014 – als gerade die ersten Anzeichen der Demenz bei Haugs Vater zutage traten – von seiner Route von Kuala Lumpur nach Peking verschwand und mutmaßlich im südlichen Indischen Ozean abstürzte. Bis heute fehlt von den Insassen sowie dem Wrack der Boeing jede Spur.

Obwohl die konsequente Parallelisierung des Entschwindens einer Person im nächsten Umfeld mit dem Verschwinden von 239 Menschen etwas konstruiert erscheint, führt uns Haug doch prägnante Überlappungen vor Augen. So entsprechen die bald erfundenen Geschichten des Vaters mithin den teils abstrusen Verschwörungstheorien mancher Sachbuchautoren. Überdies gleicht das Vermissen der Hinterbliebenen dem steten Abschied vom sich verlierenden Vater. Hineingerufen in die Lücke zwischen den beiden permanent wechselnden Erzählsträngen, verleihen lakonische Sätze à la „Du musst doch hier irgendwo sein“ letztlich allen Suchenden Ausdruck.

Ihnen und den Opfern hat Haug ein Denkmal errichtet. Damit sie nicht vergessen werden, hat sie deren Hintergründe aufwendig recherchiert und skizzenhaft niedergeschrieben. Ihr Buch liest sich daher wie ein Archiv verebbter Stimmen. Der Ozean mag die Körper vieler verschlungen haben. Ihre Seelen aber nicht. Und der Abschied? Der wird leider nur der Autorin am Sterbebett ihres Vaters zuteil. Bis zu diesem Schlusspunkt verdichtet Haug, was der Vater trotz allem als ein würdevolles Ende bezeichnet hätte. All right. Good night. versteht sich daher vor allem als ein Lehrwerk über Humanität und Zärtlichkeit.

All right. Good night. Helgard Haug Rowohlt 2023, 160 S., 22 €

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