Dritter Lesetag

Bachmannpreis Am dritten Tag dominieren in Klagenfurt die politischen und gesellschaftskritischen Texte. Mario Wurmitzer überrascht dabei mit einer wunderbaren Satire

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Laura Leupi liest nicht nur einen Text über sexualisierte Gewalt, sondern ein Text voll Gesellschaftskritik
Laura Leupi liest nicht nur einen Text über sexualisierte Gewalt, sondern ein Text voll Gesellschaftskritik

Foto: Johannes Puch

Yevgeniy Breyger: Die Lust auf Zeit

Der Autor, eingeladen von Insa Wilke, ist eigentlich Lyriker. Breyer stammt aus dem Nordwesten der Ukraine und zog im Alter von 10 Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. In Frankfurt am Main studierte er kreatives und literarisches Schreiben.

„Apropos Gesicht“, beginnt sein Text über den Schlaganfall des Großvaters, der im Krankenhaus liegt. Der Ich-Erzähler sitzt im Vorzimmer und zögert, den Raum des alten Mannes zu betreten. Immer wieder wird die Handlung mit Nahaufnahmen unterbrochen: die Schritte der Ärztin, gezählte Sekunden oder die Stirnfalte des Gesichts. Krankheit als Metapher. Am Ende der Kurzgeschichte heißt es: „Warum hast du so lang gewartet?“ Jurorin Brigitte Schwens-Harrant merkt dazu an, dass Breyger ständig zwischen Früher und Heute wechselt. Sie findet, dass der Text erzählerisch gut eingefangen sei und dass jedes Wort mit Bedacht gewählt wurde.

Der Bachmannwettbewerb: vom 28. Juni bis 2. Juli organisieren 3Sat und der ORF die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur. Zwölf Schriftsteller*innen sind in diesem Jahr für den Bachmannpreis nominiert. Studierende der Angewandten Kulturwissenschaft des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Lesewettbewerb. Das Blockseminar „Einführung in den Literaturbetrieb“ (Dozent: Karsten Krampitz) verwandelt sich für ein paar Tage in ein Blog-Seminar.

Für Juror Klaus Kastberger ist die Sache klar: Man muss mit dem Text Geduld haben. Lässt man sich allerdings auf ihn ein, so erschließen sich dem Leser viele versteckte Motive. Diese Erzählung sei extrem politisch. Phillip Tingler findet den Text hingegen „so mittel“, er habe ihn nicht umgehauen, worauf Kastberger trocken erwiderte: Immer wenn Tingler einen Text als „mittel“ betitele, werde dieser zum nächsten Bachmannpreisträger.

Sarah Stark

Mario Wurmitzer: Das Tiny House ist abgebrannt

Mario Wurmitzer aus Österreich schreibt Prosa und Theaterstücke, die bereits an verschiedenen Bühnen aufgeführt wurden. Wie er selbst sagt, hat die Literatur, nach dem Studium der Germanistik und Geschichte, sein Leben grundlegend verändert.

Wie heuer schon bei anderen Beiträgen, ist die Erzählung des Protagonisten auf einen eher kleinen Raum beschränkt, den es mit wenig Mobiliar, vielen positiven Gedanken, für die er sich vertraglich verpflichtet hat, auszufüllen gilt. Der Ich-Erzähler wohnt in einem Tiny House als Werbefigur der Firma „Modern Home“. Er wird dafür bezahlt, um dort „Wohnen“ vorzuführen. Umgeben von vielen Kameras, ein Leben den Besuchern verheißend, das mit wenig finanziellem Aufwand zu schaffen sei. Der Ich-Erzähler erwartet Gäste, wie Rainald Goetz oder Maxim, die dann doch nicht kommen, obwohl er für einen der beiden gekocht hat. Er sagt, den Alltag in dieser Umgebung zu meistern, bedeute ihm wenig Mühe. Wurmitzer zitiert Clemens Setz: „Er stand auf, zog sich die Sandalen an und ging in Garten randalieren.“ Der Rum Stroh 80, den er geschenkt bekommen hat, hilft ihm über sein Misstrauen, seine Zukunft betreffend, hinweg. Eines Tages schaltet er die Kameras aus ...

Die Jury bewertete den Text als humorvoll und zeitgemäß, lustig und trotzdem kritisch, im Gesamten unterhaltsam. Mara Delius meinte in dem Beitrag eine Form von „Kapitalismuskritik, aber witzig“ zu erkennen; Klaus Kastberger sah den Text in der engeren Auswahl.

Christine Derler

Laura Leupi: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

Von „A steht für Angst, die uns anerzogen wird“ bis „Z steht für Zuhause, unser eigenes oder ein anderes, da, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen. […] und des Zorns.“ Dazwischen das F, das steht für Frauenhäuser, Femizid, aber auch ficken und Frust, oder das M, das unter anderem für Männerhäuser steht, „von denen es nur 3 gibt in der Schweiz und die keine öffentlichen Gelder erhalten“. Das Alphabet der sexualisierten Gewalt ist ein Text gegen das Patriarchat, der aber zeigt, dass Gewalt auch gegen Männer passiert.

Die 1996 in Zürich geborene Laura Leupi, die heuer als einzige Schweizer Autor*in um den Ingeborg Bachmannpreis liest, schafft mit dem Alphabet Ordnung, um zu erzählen, was schwer zu erzählen ist. Die Geschichte einer Vergewaltigung. Dabei spricht sie das Publikum direkt an: „Sagen Sie laut: Vergewaltigung. Vergewaltigung. Vergewaltigung. Vergewaltigung. Wie fühlen Sie sich? Schwindelig, wütend, beklommen, erregt?“ … „Wie sehen Sie mich, jetzt, da Sie wissen, dass ich vergewaltigt wurde?“ …. „Sie fordern also Höchststrafen für Vergewalter*innen, mit besorgten Augen und harten Händen, rassistisch eingefärbt. Damit sagen Sie: Vergewaltigen, das tun die Anderen. Und dabei sind es gerade Gefängnisse, in denen Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind.“

Die Jurorin Insa Wilke nennt die Erzählung einen „Text mit politischem und literarischem Anliegen“. Tatsächlich ist es nicht nur ein Text über sexualisierte Gewalt, sondern ein Text voll Gesellschaftskritik, mit Schimmel als Metapher für den Dreck, von dem wir alle tagtäglich umgeben sind, nicht nur umgeben, von dem wir Teil sind, denn: „Vergewaltigen, das tun die Anderen.“ Aber ist das so?

Die Kritik der Juror*innen fällt hauptsächlich positiv aus. So ist es für Brigitte Schwens-Harrant eine „beeindruckende Lesung“ mit „starken Bildern am Anfang“ und dem „Alphabet als Grundgerüst“. Thomas Strässle, der den Text von Laura Leupi einreichte, findet „szenisch extrem dichte Momente, die sich durchziehen“. Klaus Kastberger bedankt sich bei Laura Leupi für ihren Auftritt und meint, dass es sich eigentlich um ein Theaterstück handle. Aber das sei auch der Rahmen, so Kastberger, der hier sei und die Texte belebe. Laura Leupi profitiert natürlich von ihrer Erfahrung aus der Theaterszene, in der sie sich einen Namen gemacht hat – sie studierte unter anderem Theaterwissenschaft.

Philipp Tingler findet den Text hingegen weder „emanzipatorisch“ noch „mutig“, er leide vielmehr an einem „Moralisierungsüberschuss“.

Diskutiert werden verschiedene, im Alphabet aufgezählte Wörter, wie Klimakrise. Es wird die Frage aufgeworfen, was habe Klimakrise mit dem Thema zu tun? Aber ist es nicht eine Vergewaltigung der Menschheit an der Umwelt, die die Klimakrise auslöst?

Doch Z muss nicht nur für Zorn stehen oder für Zuhause, einem Ort, wo „die meisten sexuellen Übergriffe geschehen“, sondern auch für ein Zuhause „wo wir uns begegnen und gemeinsam kämpfen. Ein Ort des Zuhörens. Ein Ort der Zuflucht. […] Ein Ort der Zukunft“. Wie Laura Leupi schon in ihrem Porträt sagte: „Sprache ist ja immer beides … sie kann gewaltvoll sein … aber Sprache kann auch befreien“.

Christina Hudl-Pinter

Deniz Utlu: Damit du sprichst

Der Alfred-Döblin-Preisträger des Jahres 2021 studierte Volkswirtschaftslehre und schreibt Romane und Essays. Utlu forscht außerdem am Institut für Menschenrechte in Berlin und lehrt literarisches Schreiben in Leipzig sowie Wien.

„In dem Moment brach sie in Tränen aus. Ich verstand sofort, dass ich etwas Schreckliches getan hatte.“

Im Fokus des Textes steht die Beziehung zwischen einem deutsch-türkischen Sohn und seiner Mutter, welche durch den Alltag immer wieder auf die Probe gestellt wird. Der Vater erleidet einen Schlaganfall und verliert sein Sprechvermögen. Die Mutter übernimmt seine Pflege und entwickelt ein eigenes System, um mit ihm fortan nonverbal zu kommunizieren – während der Sohn seinen Interessen nachgeht. Es kommt zur Entfremdung in der Familie.

Dem Text übergeordnet ist das Thema der Sprachlosigkeit. Dafür sprechen auch die wiederkehrenden Elemente von Sprache, beispielsweise der Begriff „Augenzunge“, die Mutter als Sprachlehrerin; das Leben in der Zweisprachigkeit und ein lyrisches Ich, das sich umbringen will.

Publikumsvoting

Eine der Auszeichnungen, die im Rahmen des Bachmannpreises vergeben werden, ist der Publikumspreis. Er wird per Voting von den Zuschauern ermittelt. Hier können Sie am 1. Juli zwischen 15:00 und 20:00 teilnehmen. Gültig ist die Stimme nur mit einer kurzen Begründung, warum man sich für die Autorin oder den Autor entschieden hat.

Die Jury ist sich, wie während des ganzen Wettbewerbs, uneinig, was die Bewertung des Textes angeht. Mithu Sanyal betont die Gleichzeitigkeit des Auftretens der Figuren im Text. Außerdem spricht sie die Intertextualität des Werkes an und lobt die gut umgesetzte Sprachlosigkeit zwischen den Charakteren. Insa Wilke sieht in der Erzählung vor allem einen Jungen, der sich von der Geschichte der Eltern befreien will. Der Aushandlungsprozess zwischen Mutter und Sohn würde im Text erfreulicherweise mehr erzählt und nicht erklärt werden, so Strässle. Kastberger und Tingler allerdings kritisieren die Konventionalität des Werkes. Der Handlungsbogen sei zu langatmig und würde zu genau erklärt werden, ohne schlussendlich an einem Punkt zu gelangen. Laut Kastberger gäbe es zu wenig Spannung und zu viel Didaktik im Text. Offenbar stehen die Chancen nicht gut für einen Preis.

Die Letzten werden die ersten sein – eher nicht in Klagenfurt.

Orsolya Pataki, Alexandra Kuhrt, Victoria Lammer

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sarah Stark, Christine Derler, Christina Hudl-Pinter, Orsolya Pataki, Alexandra Kuhrt, Victoria Lammer | Blogseminar

Studierende des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Bachmannpreis

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