Zweiter Lesetag

Bachmannpreis Ein Favorit für den Bachmannpreis und eine Favoritin für den Publikumspreis

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Jacinta Nandi spricht aus, was viele Mütter nur denken, aber nie sagen würden
Jacinta Nandi spricht aus, was viele Mütter nur denken, aber nie sagen würden

Foto: ORF/Johannes Puch

Sophie Klieeisen: Taube Früchte

Eröffnung des Humboldt-Forums in Berlin; das Who’s Who der Kulturschickeria ist zugegen: Leute, die Kunst und Kultur nicht schaffen, aber besser davon leben als die Künstler. Eine absurde Welt, in der jeder um seine Daseinsberechtigung ringt. Die Autorin kennt sich offenbar aus in dieser Welt, kennt Politiker, Kritiker, Journalisten, Intendanten, Kulturbeamte, all die traurigen Clowns, die hier die Lächerlichkeit der ‚besseren‘ Gesellschaft spiegeln. Die wie Ameisen um ein Monument herumwuseln.

„Es war das Spiel des Gehört- und Gesehenwerdens, der tägliche kleine Kampf um Anerkennung, die eigene sehnend, die der anderen verleugnend, das Prinzip dieser Gesellschaft. Das Spiel bestand in der Äußerung von Sympathiebekundungen, die andere, die die in diesem Milieu besonders ausgeprägten Konkurrenzriten nicht so genau kannten, Gehässigkeit nennen würden.“

Der Bachmannwettbewerb: vom 28. Juni bis 2. Juli organisieren 3Sat und der ORF die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur. Zwölf Schriftsteller*innen sind in diesem Jahr für den Bachmannpreis nominiert. Studierende der Angewandten Kulturwissenschaft des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Lesewettbewerb. Das Blockseminar „Einführung in den Literaturbetrieb“ (Dozent: Karsten Krampitz) verwandelt sich für ein paar Tage in ein Blog-Seminar.

Ein Strang des Textes ist deutsche Symbolpolitik, die staatliche Verfasstheit des alten und neuen Staates wird rund um die Eröffnung des neuen Humboldt-Forums in Berlin auf mehreren historischen Ebenen verhandelt. Goldene und silberne Kugeln verhalten sich zueinander aus verschiedenen Perspektiven wie Sonne und Mond, die einander wie Sonnen- und Mondfinsternis auch den Platz zu glänzen nehmen. Jurorin Brigitte Schwens-Harrant dazu: „Man kennt ja diese Eröffnungsfeste. Man kennt auch die Belegschaft, die dann dort hinläuft. Die Leute, denen man begegnen möchte und denen man nicht so gerne begegnen möchte. Das hat natürlich wirklich satirische Züge.“

Die Gebäudemetapher sei spannend. „Ein interessanter politischer Blick in die Geschichte eines Landes, der darinsteckt.“ Juror Tingler konstatierte: „Es geht um Strukturen der Gesellschaft und wie sie in der Dynamik dafür sorgen, dass das Mittelmaß nach oben gespült wird.“ Er habe sich gefragt, ob jemandem auffällt, „dass hier der Teufel auftritt, genauer die Teufelin.“ Konkret: in der Person einer gewissen Greta. „Es geht hier darum, wie die Gesellschaft gefangen ist in den Pirouetten ihrer Geltungsdiskurse.“ Tingler spricht von Schamlosigkeit, mit der heute Karrieren umgesetzt werden.

Hannelore Kohlweg

Martin Piekar: Mit Wänden sprechen/Pole sind schwieriges Volk

Wenn in den vergangenen Tagen von „konventionell“ die Rede war, nimmt der deutschsprachige polnische Lyriker Martin Piekar, das Wort bildlich in den Mund, spuckt es aus und lässt es für seinen Vortrag ungültig werden. Martin Piekar stammt aus einer Akademikerfamilie, wächst aber in Armut auf. Die enge Beziehung zu seiner Mutter prägt sein Schreiben. Mit der Poesie und der Schrift, so erzählt er im Vorspannvideo, leistet er Arbeit an sich selbst und von sich selbst. Piekar liest auf Einladung von Klaus Kastberger.

„Mit den Wänden redete meine Mutter wie mit mir, ein Sprachcocktail aus polnisch und deutsch drang durch die Wand, die unser Zimmer voneinander trennte. Zwei unterschiedliche Sprachen vermischt – auf wie vielen Ebenen kann dies, zwei Menschen voneinander trennen? In dem Moment schwor ich mir, nie so einsam zu werden, wie meine Mutter.“

Mit ausgewählter literarischer Kraft öffnet Martin Piekar (durch Wände?) einen Flur zu einer Geschichte, die einen das nicht Mitfühlen unmöglich macht. In dem von ihm beschriebenen Durchgang stauen sich auf engstem Raum die täglichen Emotionen, die – etwa in einem Kochduell zwischen der Mutter und Sohn – in Ohnmacht und Flucht ihren Ausdruck finden und ausgehandelt werden. Ein Junge, der vor der Übertragung des Traumas seiner polnischen Mutter, Zuflucht in Poesie und Musik sucht, sich selbst in Gefühlschaos und Abschottungsmechanismen einen Raum schafft. Die Mutter, geprägt wiederum von der eignen Mutter, erzählt mit dem zu viel Gesagtem, Ungesagtes. Alkohol nimmt das Leben ein.

Martin Piekar schreibt, „um sich selbst zu überwinden“, liest mit starker Stimme und verstrickt den Rezipienten in eine Geschichte, die sich ganz so einfach wohl nicht erklären lässt. In Gefühlen verpackt, wird sie wieder geöffnet und transportiert. Die Vielsprachigkeit überrascht den Text und lockert mit Pflegetipps die grundsätzlich schwere Kost auf. Es bietet sich ein Raum, der sich mit Spannung aufbauen lässt und sich am Ende mit einer gekonnten Gelassenheit selbst wieder zersetzt.

Juror Philipp Tingler kritisiert den Bruch, der die aufgebaute Spannung durch einen Schrei kippen und die Geschichte in einen Monolog der Mutter übergehen lässt. Der Text bringt Mithu Sanyal zum Weinen und erfüllt somit ihr Kriterium. Für Thomas Strässle hat der Text „durch seine Lesung unglaublich gewonnen“. Mara Delius spricht die Ratlosigkeit gegenüber der eigenen Mutter an und lobt die Vielfältigkeit der Stimmen.

Der wohl wichtigste Satz der Lesung steht nicht im Skript. „Dziękuję Mamo“. Martin Piekar hat seiner verstorbenen Mutter ein wunderbares Denkmal gesetzt, das die Jury bei der Preisvergabe am Sonntag hoffentlich zu honorieren weiß.

Antonia Prill

Jacinta Nandi: Zeitmaschine

Jacinta Nandi startet ihren schwarz-humoristischen und sympathischen Beitrag mit einer premierenhaften Bemerkung über einen Kotzeimer unter dem Tisch, den sie aufgrund der Nervosität braucht. Wobei man davon ausgehen könnte, dass die 43-jährige Alleinerziehende als Betreiberin der englischsprachigen Lesebühne My English Class mit Lampenfieber warm geworden sein könnte.

Wie auch schon in ihrem früheren Texten spielt auch in Zeitmaschine, ihrem Beitrag beim Bachmann-Wettbewerb, die alleinerziehende, nach Deutschland gezogene Mutter eine große Rolle. Mit schwarzem Humor und Ironie zeichnet sie ein Bild von Gewaltbeziehung und den tieferen Gedankengängen von deutschen Müttern, die einen stillen Hass auf Kinder und das Leben haben.

Publikumsvoting

Eine der Auszeichnungen, die im Rahmen des Bachmannpreises vergeben werden, ist der Publikumspreis. Er wird per Voting von den Zuschauern ermittelt. Hier können Sie am 1. Juli zwischen 15:00 und 20:00 teilnehmen. Gültig ist die Stimme nur mit einer kurzen Begründung, warum man sich für die Autorin oder den Autor entschieden hat.

Die Szenen, die sie dynamisch und komisch ans Publikum bringt, entlockten nicht nur den Zuschauer*innen vor Ort Lachern, auch der Jury, die sich in der Diskussion eingehend mit Wirsing und Koks beschäftigte.

Koksende Mütter und die mit dem Wirsing mordende Frau Goebbels arbeiten als Metaphern für die deutsche Mutter, die sich insgeheim wünscht, ihr Kind sei tot oder abgetrieben hätte, wenn sie es nochmal machen könnte. Keine Mutter würde offen aussprechen, was Jacinta Nandi anspricht und doch hat jede solche Gedanken, wie Jurorin Mithu Sanyal zugibt. Der Text gibt eine komplexe Ehrlichkeit über Mutterschaft in der innigen Beziehung zwischen Mutter und Sohn wieder, während sie gleichzeitig die Frage der Gewaltbeziehung zwischen Ehefrau und Ehemann aufwirft.

Während die Ich-Person sich immer wieder sagt „Das ist keine Gewaltbeziehung“, stellt die Erzählung für Jury-Vorsitzende Insa Wilke die Gründe, warum es eine Gewaltbeziehung ist, dar. Für Juror Klaus Kastberger ist die Frage nach der Gewalt eine offensichtliche Stärke des Textes, gepaart mit einer Leichtigkeit, die dazu führt, dass man den Text gerne liest. Er ist auch nicht der Einzige, der das Mittel der Übertreibung anspricht: koksende Mütter, die sich unwirkliche Geschichten erzählen und Mordmethoden für ihre Ehemänner diskutieren.

Brigitte Schwens-Harrant sieht die Übertreibungen als Tabu-Brecher; sie spricht auch die lebendigen Dialoge an, denen man glaubt, dass sie real sind und tatsächlich unter Müttern geführt werden. Trotz der offensichtlichen Ausschweifungen. Der Text arbeitet mit dem Alltag, Katastrophen unterbrechen den plätschernd-plappernden Lesefluss der Autorin, wie Insa Wilke betont. Gleichzeitig wird die Sprache hier auch als Zeichen der Gewalt und Drohung instrumentalisiert, wie auch immer, Philipp Tingler sagt, die koksenden Mütter seien das Beste am Text.

Der Text endet mit der Frage nach dem Tod des Ehemannes, ist ein Mord gerechtfertigt oder nicht und was die Frau will. Um zu leben, muss sie ihn töten.

Simone Böhm

Anna Felnhofer: Fische fangen

Der erste Wettbewerbsbeitrag aus Österreich. Die Autorin wurde 1984 in Wien geboren und lebt auch dort. Sie ist Klinische Psychologin, Wissenschaftlerin, Gründerin und Leiterin des „Pediatric Virtual Reality Labors“ an der MedUni Wien. Felnhofer arbeitet in der Kinder- und Jugendpsychologie.

In ihrem Text geht es um Gewalt, die ein siebzehnjähriger Junge durch drei vermutlich ältere Burschen erfährt. Die Geschichte trägt sich nach den Sommerferien zu. Im Hinterhof einer Schule wurde der Protagonist brutal von den Dreien geschlagen und drangsaliert. Das Problem des Burschen ist eine Krankheit, die es ihm nicht ermöglicht, Gesichter genau zu erkennen, womöglich eine Form von Autismus. So konzentriert er sich auf die banalen trigonometrischen Figuren: Mund, Nase und Augen.

Erzählt wird von einem höchst problematischen Verhältnis zur Mutter, die, nachdem sie von ihrem Mann verlassen wurde, dem Alkohol im Übermaß zuspricht. Eine Szene beschreibt rückblickend jenen Mittag, als die Mutter das Kind vom Kindergarten abholt und es sie aufgrund dieser rätselhaften Störung nicht erkennt und dafür Schläge ins Gesicht erhält.

Eine andere Szene aus der Kindheit beschreibt einen Nachmittag am Wolfgangsee im Ferienlager. Er wurde zum Angeln auf den See mitgenommen und beobachtete mit Schmerz das Töten der Fische. „Der letzte Fisch, der an diesem Nachmittag aus dem See geholt wurde, ertrug die Gewalt und das Ende mit Würde und ohne Widerstand“.

Am Ende dann der bittere Moment. Der Junge scheint sich, genauso wie der Fisch, seinen Peinigern zu ergeben: Er stimmt in ihr Gelächter ein.

Viel Applaus für die Autorin. Der Tenor der Jury ist durchweg positiv. So spricht Philipp Tingler von einem Text hoher literarischer Qualität über die Ambivalenz des Opferdaseins, in der sich das Opfer schließlich mit den Peinigern identifiziert.

Ulrike Hassler

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Hannelore Kohlweg, Antonia Prill, Simone Böhm, Ulrike Hassler | Blogseminar

Studierende des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Bachmannpreis

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