Der erste Tag

Bachmannpreis Zwei Autor*innen werden Chancen auf die Shortlist und einen Preis eingeräumt:  Jayrôme C. Robinet und Gordeev

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Valeria Gordeev ging aus dem ersten Tag als eine der Favoritinnen für den Bachmannpreis hervor
Valeria Gordeev ging aus dem ersten Tag als eine der Favoritinnen für den Bachmannpreis hervor

Foto: ORF/Johannes Puch

Jayrôme C. Robinet: Sonne in Scherben

„Schreiben heißt, durch unerwartete Wendungen zu verblüffen, durch das Verborgene das Rätselraten anzuregen. Das Unsichtbare zu offenbaren. Zur Heilung dieses Planeten beizutragen.“ Dass Robinet Spoken-Word Künstler ist, wird bereits durch sein Vorstellungsportrait evident. Der Franzose, eingeladen von Jurorin Minthu Sanyal, lebt seit 23 Jahren in Berlin, davon seit 13 Jahren als Mann. Beim Bachmann-Wettbewerb präsentiert er den Romanauszug „Sonne in Scherben“ über einen Transgendermann, der schwanger wird.

Robinet traut seinem Publikum viele Themen zu und erzählt eine unkonventionelle Geschichte, geprägt von Wortspielen und musikalischen Elementen, die das Publikum auf jeder Seite zum Lachen verleiten. Zentrales Thema: Die Liebe. Das Leben des Ich-Erzählers wird wie in Zeitraffer dargestellt. Seine Beziehung zu seinem Vater ist geprägt von der typischen Männlichkeit dieser: Er ist Bauarbeiter, repariert auch im eigenen Haus alles, ist ausgewiesen durch die Stärke eines Superhelden – „Dr. Papa“. Die Reaktion des Vaters auf die Geschlechtsumwandlung seines Kindes kann lediglich in einem immaginierten Dialog wiedergegeben werden, denn sein Vater verunglückt zusammen mit seinem Bruder. Robinet dramatisiert dabei das Geschriebene durch häufiges und gebrochenes Wiederholen: „Vielleicht geht es im Leben um das Unwerden/Verwerden/Entwerden.“

Das Thema Geschlecht zieht sich durch die verschiedenen Textabschnitte, beginnend mit dem Rollenbild des Vaters und weitergeführt durch Anekdoten über Mozzarella, Clownfische sowie „einen Vagina mit Variationshintergrund“. Subtile Vorausdeutungen dieser Art weisen darauf hin, was im späteren Leben des Charakters passieren wird. Neue Naturgesetze treten in Kraft, wie der Autor selbst schreibt, als der Protagonist, nun ein Transmann, eine Beziehung mit einer unfruchtbaren Frau eingeht und daraufhin die Schwangerschaft auf sich nimmt. Dies wird jedoch zu einem Nebenthema, als der gemeinsame Tod von Vater und Bruder und ihr Begräbnis thematisiert werden, wodurch die zwei existenziellen Momente (neues) Leben und Tod aufeinandertreffen.

Auf die Lesung folgt eine lange und hitzige Diskussion der Jury. Bemängelt wird unter anderem, dass durch die Vielzahl der behandelten Themen einige lose Enden vorhanden seien, die Geschichte erschiene dadurch überlastet. Die Erzählung der Transition und Schwangerschaft wirke hineingeschoben und wenig ausgeführt, was für so wichtige Themen schade wäre. Gleichzeitig sei die Konventionalität der Erzählweise überraschend – das Potenzial der Sprache hätte stärker genutzt werden können. Länger diskutiert die Jury die Frage, inwiefern Autor und Protagonist voneinander abzugrenzen seien. Festgestellt wird, dass der Text von den spezifischen Erfahrungen Robinets profitiere, was eine besondere Authentizität erschaffe, jedoch nicht mit einer Gleichsetzung von Künstler und Erzähler einhergehen könne.

Dennoch gibt es auch Stimmen, die die Lesung als „Perfect Package“ ansehen. Besonders gelobt wird die gelungene Vermischung von Zärtlichkeit und Schmerz. Dass die Geschichte einige der besten Sätze des Wettbewerbs enthielte, wird mehrmals betont. Die anfangs zitierte Aussage Robinets zu den Zielen der Literatur werden in „Sonne in Scherben“ durchwegs erfüllt.

Orsolya Pataki

Andreas Stichmann: Verwechslungen

Und jetzt? Diese Frage stellten sich heute wahrscheinlich viele der ZuhörerInnen, nachdem sie dem Vortrag von Andreas Stichmann gelauscht und den Text im Skript mitgelesen hatten. Es geht um einen älteren Mann, welcher sich mit einer atypischen Nesselsucht in der Klinik befindet und sein Leben und seine MitpatientInnen reflektiert. Der Text ist formal sehr gut gelungen, wie auch die Jury mehrmals erwähnt. Aalglatt, beinahe zu perfekt, sagen manche. Die Struktur ist gut verständlich und es bleibt während und nach dem Lesen keine Frage offen außer: Warum?

Es werden nicht viele Stilmittel verwendet, bemängelt Insa Wilke – die Stilmittel sind perfekt dosiert, sagt Mara Delius. Die Jury ist sich uneinig, was den Text betrifft. Dass es sich hierbei allerdings nicht um ein literarisches Meisterwerk handelt, ist eindeutig. Stichmann nahm bereits im Jahr 2012 am Bachmann-Preis teil und man müsste meinen, dass er dieses Jahr auf nichts anderes als Perfektion hinarbeiten würde. Doch vielleicht war genau das das Problem. Der Text ist zu perfekt. Zu risikolos, sagt Klaus Kastberger. Der Ich-Erzähler führt ein denkbar langweiliges und konventionelles Leben, was sich im Text widerspiegelt. Vielleicht hätte durch einen spannenden Vortrag etwas rausgerissen werden können. Hätte, hätte, Fahrradkette. So blieben die Zuhörer am Ende allein mit der brennenden Frage nach der Tiefe und dem Mehrwert des Textes, nachdem man mit dem Ich-Erzähler die ganze Zeit an der Oberfläche treibt. Was will uns der Text sagen? Der Ich-Erzähler besitzt, so Juror Thomas Strässle, ein hohes Maß an Selbstreflexion und Distanz zur eigenen Identität, er reflektiert stetig das eigene Handeln in der Vergangenheit und Gegenwart.

Der Text entspricht den Erwartungen eines guten literarischen Werkes: eine klare Struktur, eine wohl dosierte Verwendung von Stilmitteln und ein gut verständlicher Inhalt. Das Gehirn kann während des Lesens getrost ausgeschaltet werden, denn es wird kaum etwas zum Interpretieren oder Nachdenken übriggelassen.

Vielleicht ist der Text für einige genau in seiner Trockenheit und Einfachheit unterhaltsam. Die Jury-Vorsitzende Insa Wilke merkte in der Diskussion an, dass der Text eventuell für bestimmte Generationen interessanter sei als für andere.

Letzten Endes stellt sich die Frage, was von einem Text beim Bachmann-Preis erwartet werden kann und erwartet werden muss. Muss ein Text jeden ansprechen? Ist Identifikation im Text wichtig? Soll er zum Nachdenken anregen, Konventionen brechen und überraschen? Eines ist jedenfalls gewiss: zum Einschlafen bringen sollte er nicht.

Alexandra Kuhrt

Valeria Gordeev: Er putzt

Ein neurotischer Mensch steigert sich in seinen Putzwahn ein.

„Ich mag es nicht, wenn Leute sich klein machen“. Diesen Satz aus ihrem Einführungsvideo scheint Valeria Gordeev selbst umzusetzen. Schon während der Lesung kommt es zum ersten Dilemma: Der Autorin fehlt eine Seite, welche vom Moderator nachgereicht wird. Nach ihrer Lesung, bei der sie einen jungen neurotischen Studenten beschreibt, entsteht eine angeregte Diskussion. Es geht über Politik, Krieg, aber auch Corona. „Kolossal guter Text“ (Thomas Strässle) und „einer der Lieblingstexte heuer“, oder wie es Klaus Kastberger sagt: „Ein Text, der in keiner Sekunde langweilt.“

In der Jurydebatte zum Text geht es über die Vernichtung von Bakterien in einer Tiefkühltruhe. Seit Corona wüssten wir, dass die Bakterien im gefrorenen Zustand weiter bestehen bleiben. Da meldet sich die Autorin zu Wort: „nicht alle. Bestimmte werden auch abgetötet“. Eine Wortmeldung, die eigentlich nicht gestattet wird. Die Vortragenden dürfen sich nur am Ende zu Wort melden. Bei dieser Diskussion wurde die Wortmeldung aber überspielt und in die Diskussion mit hineingenommen. Denn die Juroren meinten zuvor schon, dass es so wirke, als würde die Autorin Ahnung vom Putzen haben und sich auskennen.

Publikumsvoting

Eine der Auszeichnungen, die im Rahmen des Bachmannpreises vergeben werden, ist der Publikumspreis. Er wird per Voting von den Zuschauern ermittelt. Hier können Sie am 1. Juli zwischen 15:00 und 20:00 teilnehmen. Gültig ist die Stimme nur mit einer kurzen Begründung, warum man sich für die Autorin oder den Autor entschieden hat.

Die Schilderung des Putzens zeugt für alle Juroren von einer großen Finesse. Das Zusammenspiel der langen Sätze mit dem Lesetempo ist, laut der Jurorin Brigitte Schwens-Harrant, gelungen. Die Schnelligkeit stresse auch den Zuhörer, was einen in die Neurose des Protagonisten einfühlen lässt. Ein Stressfaktor, der ausgelöst wird durch die Existenz und das Zusammenspiel der Bakterien. Die Bakterien, aber auch die Zellen des Körpers können als ein hochpolitisches Thema betrachtet werden. Von ihnen bis hin zum Protagonisten, der seinem Putzwahn verfallen ist, kann man Politik und Krieg erkennen. Krieg durch die Bekämpfung von Schmutz und anderen Bakterien. Im Körper und auf den Oberflächen. Die Verbindung zwischen Putzen, dem eigenen Körper und des im Text erwähnten Emergency Room, ergibt einen roten Faden. Hoch diskutiert wird das Ende des Textes. „Nazis raus – in den Müll“, denkt der Protagonist über die wie Hakenkreuze daliegenden Ohrstäbchen. Einzig die Vorsitzende, Insa Wilke, ist der Meinung, dass es diese Stelle des Textes braucht. Nur dadurch würde der Text stimmig werden. Die anderen Mitglieder der Jury sind sich einig, dass diese politische Anspielung zu viel ist.

Myriam Breschan

Anna Gien: Eve Sommer

Die 1991 in München geborene Autorin Anna Gien trug den Text „Eve Sommer“ mit einer ruhigen und klaren Sprache vor – im Format von Tagebucheinträgen: Momente, Träume, Frequenzen, nur leider keine Handlung. Allerdings gibt die Erzählerin sehr viel von sich preis. Jurymitglied Mithu Sanyal, bezeichnet diese Schreibweise als mutig
Überhaupt scheint es, als ob die Einträge unabhängig voneinander gelesen werden können, da die Zusammenhänge schwer erkennbar sind. Dabei wird unter anderem von sterbenden Hunden berichtet, die dann doch überlebt haben. In anderen Einträgen werden intime Träume über Thomas Bernhard beschrieben. Allein dadurch unterscheidet sich der Text vor den anderen Texten des ersten Lesetages.

Interessanter als die Handlung scheint die Diskussion zwischen den Jurymitgliedern im Anschluss des Vortrages. Während Insa Wilke die Gefühlswelt der Protagonistin hervorhebt, fragt Philipp Tingler: „Wen interessiert das?“

Lara Elö

Der Bachmannwettbewerb: vom 28. Juni bis 2. Juli organisieren 3Sat und der ORF die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur. Zwölf Schriftsteller*innen sind in diesem Jahr für den Bachmannpreis nominiert. Studierende der Angewandten Kulturwissenschaft des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Lesewettbewerb. Das Blockseminar „Einführung in den Literaturbetrieb“ (Dozent: Karsten Krampitz) verwandelt sich für ein paar Tage in ein Blog-Seminar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Orsolya Pataki, Alexandra Kuhrt, Myriam Breschan, Lara Elö | Blogseminar

Studierende des Instituts für Kulturanalyse an der Alpe-Adria-Universität Klagenfurt berichten hier über den Bachmannpreis

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