Abgeschnittene Wurzeln: Leben als osteuropäische Spätaussiedler in Deutschland
Identität Unsere Autorin ist aus Siebenbürgen nach Deutschland migriert. Lange dachte sie, ihre Geschichte zählt nicht als Fluchterzählung – doch das ist falsch. Christa Roth über ein schizophrenes Selbstverständnis
Anfang der 1990er kehrte die Autorin (vorn im Bild) mit der Familie zu einem Besuch in ihr Heimatdorf im Kokel-Gebiet zurück
Foto: privat
Schwarze Schafe gibt es. Ich habe sie gesehen. Zumindest als ich klein war. Dass Schafe von Natur aus weißes Fell haben, wäre mir beim Anblick der geschwärzten, zotteligen Tiere auf der Weide niemals in den Sinn gekommen. Die nahe gelegene Rußfabrik überzog alles und alle um sie herum mit einem öligen Film, da, wo ich zur Welt gekommen bin.
Während über ukrainische Flüchtlingsströme, das Recht auf Asyl, Bootsunglücke auf dem Mittelmeer – also Migration – zu Recht heiß debattiert wird, sind andere Wanderbewegungen weniger der Rede wert. Vielleicht weil sie weniger dramatisch, weniger traumatisch sind. Das gilt auch für meine Migrationsgeschichte. Und doch scheint sie mir gerade jetzt relevant.
Ich bin in Siebenbü
n in Siebenbürgen geboren, bekannt als Transsilvanien. Als Kind deutschstämmiger Bewohner, daher war meine Muttersprache Deutsch. Dass meine Familie „Siebenbürgisch“ spricht, eine altdeutsche Mundart, die eher an Luxemburgisch erinnert, ist ein vernachlässigbarer Spott der Geschichte.Wäre die Mauer nicht gefallen, wäre ich in Rumänien eingeschult worden und hätte herausgefunden, dass ich gar nicht in Deutschland lebe. Doch wir sind nach Baden-Württemberg gekommen, wo von Zugezogenen als „Neig’schmeckten“ die Rede ist. Hier kann man allein durch Anpassung kein Schwabe werden, sondern nur durch Abstammung einer sein, gell?Trotz deutschem Namen nicht deutsch genugDeutsch-Türken, Deutsch-Ukrainer, Deutsch-Russen ... Identitätspolitik ist allgegenwärtig. Nicht unbedingt, um Minderheiten auszugrenzen. Aber ein bisschen Abgrenzung darf schon sein, oder? Es gibt Studien, aus denen deutlich wird, dass die Vorurteile einiger Menschen nicht bei Sprachen enden, sondern auch gegenüber Dialekten und Akzenten existieren. Sogar dann, wenn diese fehlen.Auf die Frage eines Kommilitonen in Berlin, warum ich nicht Schwäbisch schwätze, antwortete ich, mein verbales „Go-to“ sei Hochdeutsch. Punkt. Ich – weißhäutig, blau-grüne Augen, deutscher Name – fühlte mich deutsch genug, um so wahrgenommen zu werden. Meine Antwort provozierte, schien unglaubwürdig. „Fremd im eigenen Land“, wie Advanced Chemistry aus Heidelberg 1992 sang, fühlte ich mich in solchen Situationen auch ohne dunkle Hautfarbe.Die Wahrheit ist: Käme ich aus Frankreich – ich hätte mich nicht geschämt und mein Geburtsland umschifft. Doch Rumänien ist nicht la belle France. Dort verortet man Armut, Prostitution, Gewalt, Dracula, nicht die samtige Rotwein-Note geschätzter Rebsorten aus dem Moldaugebiet.Es brauchte Herta Müllers Nobelpreis 2009 und meine Aufnahme in eine Journalistenschule, um die Geschichte meiner Familie zu erzählen. Eine, für die sich wenig Leute interessieren, weil sie zu wenig schwarz-weiß ist. Die von Integrationsschwierigkeiten berichtet und von Inklusionserfolgen und Arbeiterhänden, die sich mit mühsam ersparten Häuschen in der fremden neuen Heimat Stolz und Anerkennung zurückholen wollten.Zugegeben, der Wunsch, dazuzugehören, kommt oft mit einem Schutzbedürfnis für unser Anderssein daher. Die Schublade, in die wir dann gesteckt werden, wird zum Schneckenhäuschen, in das wir uns, entsprechend klein gemacht, manchmal ganz gerne verkriechen. Das verbindet unsere Migrationsgeschichte mit vielen anderen.Im Vielvölkerstaat RumänienUnsere Geschichte ist die einer harten Realität. Im zwölften Jahrhundert, als Seuchen und Hungersnöte Westeuropa heimsuchen, wandern Siebenbürger „Sachsen“ aus der Rhein-Mosel-Region nach Transsilvanien aus und formen später mit den Banater „Schwaben“ eine deutsche Provinz. Beziehungsweise eine „superdeutsche Phantomwelt“, wie es der Autor Dieter Schlesak formuliert.Nach 1945 werden die Volksdeutschen als „Kollaborateure Hitlers“ mit Deportationen in sowjetischen Arbeitslagern bestraft. So wie meine Großeltern, vier Tage nach ihrer Hochzeit. Nachweise für die vermeintliche Nazi-Ideologie meines Großvaters gibt es keine. Beweise für Widerstand auch nicht. Zugutehalten kann ich ihm, weder Rassismus noch Antisemitismus mitbekommen zu haben, wenn er mich von der Schule abholte.Im Vielvölkerstaat Rumänien erhalten die Phantomdeutschen ihr Brauchtum, ihre Traditionen und schließlich die Erlaubnis, eigene Kirchen, Schulen und Zeitungen einzurichten. Weil die Staatstreue ausbleibt, folgen Bespitzelung, Zensur, Verhaftungen und Folter. Und Auswanderungswellen. Herta Müller geht 1987 nach Westberlin.Im Rahmen der „Wiederbeheimatung“ von „Rumäniendeutschen“ gelangten wir im Sommer 1990 in die Nähe von Stuttgart. Meine Mutter, Krankenschwester, sollte in einem Altenheim arbeiten – alles andere musste sich ergeben. Fotos kurz nach unserer Ankunft zeigen Klappbetten in einer Turnhalle und verunsicherte Erwachsenengesichter.Für meinen vier Jahre älteren Bruder und mich war das Ganze wie der Eintritt in ein Wunderland. Es gab Läden, die immer volle Regale hatten. Süßigkeiten! Da, wo wir herkamen, war die Lebensmittelversorgung schlecht und Blutarmut bei Kindern nicht unüblich.„Deutscher als die Deutschen“Der neuen Normalität entsprach es, in einer Stadt mit fremden Leuten zu wohnen anstatt auf dem Dorf mit Verwandten. Dass man uns am Sehnsuchtsort Deutschland vielleicht gar nicht haben wollte, wurde vielen erst nach und nach klar. Die Zurschaustellung eines fragwürdigen Patriotismus war damit beendet.In diesem Antagonismus aus Vaterland und Muttersprache bewegen sich viele hier lebende Siebenbürger Sachsen wie auf abgeschnittenen Wurzeln. Sich das eingestehen? Macht verwundbar.„Deutscher als die Deutschen“, befand der Autor Hans Wolfram Hockl über die Siebenbürger Sachsen. Dieser absurde Wertmaßstab hat ihr Selbstwertgefühl jahrhundertelang am Leben erhalten. Hier ist völkisches Denken tabu. In Siebenbürgen manifestierte sich diese deutschtümliche Spielart in einer kollektivistischen Lebenswirklichkeit, machte das Ausgegrenztwerden in Rumänien erträglich.Jetzt sorgt dieselbe Einstellung für ein schizophrenes Selbstverständnis. Man fühlt sich den Deutschen nahe, ist ihnen aber keineswegs gleichgestellt. Man ist: anders deutsch. Ist Aussiedler, nicht Ausländer. Auf der anderen Seite scheint die Willkommenskultur in der Mehrheitsgesellschaft gegenüber ihren Landsleuten, freundlich gesagt, zurückhaltend. Aller staatlicher „Wiedereingliederung in die deutsche Gesellschaft“ zum Trotz.Als Teilhabe- und Partizipationsangebot war 1989 etwa das von der Bundesregierung geförderte Projekt „Sport mit Aussiedlern“ des Deutschen Sportbunds gedacht. Integration von erwachsenen Menschen mit Migrationshintergrund durch Sport ist sinnvoll. Dumm nur, dass vielen zunächst der Sinn nach Wohnen und Arbeiten stand, nicht nach Leibesübungen.Die innere Zerrissenheit einer „Nomadenidentität“Vor Corona lebten circa 2,5 Millionen Spätaussiedler hier. Die meisten stammen aus Kasachstan, Polen, Russland und Rumänien. Laut CSU dienen sie alle als „Vorbilder der Völkerverständigung“. Hilfesuchende hätten sich zu Leistungsträgern entwickelt. Derart biedert man sich in offiziellen Vorträgen auch mit Kritik gegen zum Teil ungerecht geregelte Rentenansprüche an.Ob aus Markus Söders Sicht wirklich eine „Integration unter Wert“ stattgefunden hat, wie er bei Festvorträgen dieses Jahr nicht müde wird zu betonen? Konservativen Vertriebenen- und Aussiedlerverbänden zu schmeicheln, verspricht zumindest gute Zustimmungswerte.Immerhin beschäftigt sich ein bayerischer Ministerpräsident mit uns. Im Allgemeinen gilt aber die „Kunst des Verschwindens“, wie Autor Schlesak das nannte, was mit uns Deutschstämmigen passiert. Als „Nomadenidentität“ bezeichnet es der italienische Schriftsteller Claudio Magris. Es gibt kein Anrecht auf Volkszugehörigkeit, sage ich.2017 veranstalten die Landsmannschaften erstmals ein „Heimattreffen“ im rumänischen Hermannstadt. Seitdem wird der Ruf lauter: „Siebenbürgen und Siebenbürger Sachsen gehören zusammen!“ Aber wie lange noch? Sind wir nicht hierhergekommen, um zu bleiben?Die innere Zerrissenheit bleibt, wie die Gräber auf den alten rumänischen Friedhöfen, zugedeckt mit Betonplatten. Wer soll auch Blumen bringen? Der Trend, sich Haus und Hof zurückzukaufen, wird nicht anhalten. Die meisten Willigen sind zu alt, die Preise zu hoch. Ihr Versuch, abermals in der alten Heimat Halt zu finden, ist bedrückend mit anzusehen, wenn sich das Gefühl Bahn bricht, nirgendwo hineinzupassen.Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine? Eine ZwickmühleIn Rumänien zu bleiben, war keine Option. Ich bin froh, meine deutsche Seite auf deutschem Boden auszuleben. Ich bin hier zu Hause. Der Biodeutschen-Blaupause möchte ich dennoch nicht entsprechen. Meine Scham ist einer willkommenen existenziellen Vielschichtigkeit gewichen. Wer ich heute bin? Viele.Mag sein, dass zum alljährlichen „Heimattag“ im fränkischen Dinkelsbühl 2018 tatsächlich 20.000 Leute inklusive Markus Söder angetanzt sind. (Wer sonst?) Beweist das, wie die Siebenbürgische Zeitung schreibt, dass „die Siebenbürger Sachsen in ihrer Identität gereift und erfüllt sind“? Hashtag: Zweifel.Über soziale Distanz schweigen ist Silber. Der Austausch mit „den Deutschen“ über gesellschaftlichen Zusammenhalt: problematisch. Interkulturelle Sensibilisierung in unserem Fall entspricht nicht dem Zeitgeist. Es gibt drängendere Aufgaben. Es schwingt mit: Sei froh und dankbar, du hast die gleiche Nationalität, gleiche Rechte. Unterschiedliche Mentalitäten gibt es überall.Froh bin ich, ausgerechnet jetzt keine Russlanddeutsche zu sein. Skepsis, Diskriminierung und Ressentiments, die dieser Migrantengruppe entgegenschlagen, haben seit Putins Krieg erheblich zugenommen. In der öffentlichen Wahrnehmung zählt das Merkmal „deutsch“ in „Russlanddeutsch“ wenig bis gar nichts. So als steckte darin ein unzulässiger Grundwiderspruch. Als einstige Osteuropäerin zeige ich mich angesichts des Spannungsverhältnisses von Herkunft und Gegenwart solidarisch und verweise auf die elende gefühlsmäßige Zwickmühle, ohne mich einer prorussischen Haltung verdächtig zu machen. Hoffe ich.Heute bin ich mit meinen 36 Jahren so alt, wie meine Mutter war, als sie mit Kind und Kegel nach Deutschland kam. Ich bin, vielleicht nicht nur in den eigenen Reihen, aber auch zu einem Schaf mutiert. Manchmal ist es schwarz, aber eigentlich, wenn ich genau hinschaue, ist es gescheckt.Placeholder authorbio-1