„Die Rechte der Natur“ von Tilo Wesche: Dem Menschen gleichgestellt
Philosophie Immer mehr Staaten erkennen an, dass die Natur eigene Rechte besitzt. Aber wie lässt sich das begründen – oder gar anwenden? Fragen, denen der Philosoph Tilo Wesche in seinem Grundlagenwerk „Die Rechte der Natur“ nachgeht
Die Natur soll mit bürgerlichen Kampfmitteln ausgestattet werden
Fotomontage: der Freitag, Material: iStock, Adobe Stock
Dass die Natur beseelt sein könnte, ist ein sehr alter Menschheitsgedanke, älter noch als die Mythologie der Griechen, die selbst eine vielbevölkerte Götterumwelt bewohnten, in der das Meer aussah wie ein bärtiger Mann mit Dreizack und der Frühling wie ein junges Mädchen. Die romantische Dichtung griff auf diesen Vorstellungsraum ebenso zurück wie die kulturkritische Variante der Kulturindustrie: Avatar von 2009, mit einem Einspielergebnis von knapp drei Milliarden Dollar immer noch der erfolgreichste Film aller Zeiten, handelt vom Kampf, den die indigenen „Na’vi“ gegen den ausbeutenden Imperialismus eines Großkonzerns führen, ein Kampf, bei dem ein ganzer Planet aufseiten des bedrohten Volkes eingreift.
Man könnte ver
Man könnte versucht sein, Tilo Wesches neues Buch Die Rechte der Natur hier einzuordnen, da es mit einer ziemlich erdnahen Sichtweise auf den Whanganui River eröffnet: „In der maorischen Weltanschauung wird er Te Awa Tupua (,Fluss als Ahne‘) genannt und als Heiligtum verehrt, weil die Ahnen in ihm wohnen.“ Wesche übernimmt diese Perspektive, denn auch er erkennt im Fluss mehr als einen Fluss. Auf seine selbstgestellte Frage „Wem gehört die Natur?“ antwortet er ganz eindeutig: Sie gehört niemand anderem als sich selbst! „Der Whanganui River ist für Menschen unantastbar und kann deshalb nicht ihnen gehören; er entzieht sich den Eigentumsrechten, die Menschen über leblose Dinge ausüben.“Fabelwesen juristischer ArtAber wie das juristische Vokabular bereits verrät, formuliert Wesche keine Variante jener gerade so erfolgreichen, etwas archaisch anmutenden Anthropologien, in denen Menschen, Tiere und Bäume miteinander kommunizieren. Ihm geht es nicht um die Gleichsetzung von wissenschaftlichem und naturreligiösem Denken, ja, sein Ansatz müsste sogar im recht engen Sinne aufklärerisch genannt werden, weil er die animistische Sicht der Maori ins moderne Recht übersetzt. Nur dass dadurch, und das ist die Dialektik, ganz neue Fabelwesen juristischer Art entstehen, die kaum weniger fiktiv erscheinen als die Totemtiere der alten Welt. Wie es der Titel seines Buches Die Rechte der Natur verrät, reicht es Wesche nicht, sich den Whanganui River als beseeltes, unserem Zugriff entrücktes Jenseits vorzustellen; wir sollen ihn noch menschlicher, als gleichgestellte Rechtsperson begreifen.Das damit skizzierte Projekt ist zugleich grundlegend und nachholend: Einerseits wird die Natur mit den Rechten ausgestattet, die ihr immer schon gehörten, andererseits eine Theorie entwickelt für das, was ohnehin geschieht: Der neuseeländische Staat hat dem neuen Blick auf die Natur nämlich bereits recht gegeben, als er 2017 die Personalität des maorischen Ahnenflusses anerkannt hat, und dies ist bei Weitem kein Einzelfall. Weltweit wachsen biologische Rechtssubjekte wie die redensartlichen Pilze aus dem Boden. Die Rechte der Natur ist nun der erste systematische Versuch, diesen Vorgängen ein rechtsphilosophisches Fundament zu geben, und wenn Eva von Redecker mit ihrer Bleibefreiheit (der Freitag 35/2023) den modernen Autonomiebegriff reformuliert hat, dann denkt Wesche in seinem Buch das bürgerliche Privateigentum ganz neu. Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist dieses in seiner Interpretation kein uneingeschränktes Verfügungsrecht über tote, seelenlose Gegenstände, sondern durch diese von vornherein begrenzt.Um das aufzuzeigen, muss man weit ausholen. Wesche strengt eine Grundlagenreflexion auf den Begriff des Eigentums an. Schon Kant und Locke sahen eine innere, begriffliche Grenze desselben an der persönlichen Integrität anderer Eigentümer. Was und wie ich besitze, wird eingeschränkt durch die Unversehrtheit derer, die theoretisch auch etwas besitzen können: die anderen Subjekte. So hängen Eigentum und Freiheit zusammen, da die Letztere bekanntlich bei der Freiheit des anderen endet. Oder wie es der US-amerikanische Philosoph Robert Nozick einmal formuliert hat: „Meine Eigentumsrechte an meinem Messer erlauben es mir, es hinzutun, wo ich will, aber nicht in deine Brust.“„Wertschöpfung rechtfertigt Eigentum“Genau diesen Gedanken dreht Wesche nun weiter. Seine Innovation ist, dem Verständnis von Liminalität (lateinisch limes: Grenze), das die philosophischen Klassiker besaßen, eine weitergehende Theorie hinzuzufügen und die intrinsische Grenze des Eigentumsbegriffs auch dort zu ziehen, wo die Rechtsphilosophie bislang nur passive Objekte fand. Das Messer in der Brust wird zum Giftmüll im Wald. Zwar geht Wesche nicht so weit, Seen und Bergen einen Willen zuzusprechen, der vor Übergriffen geschützt werden müsste. Jedoch kann er an Naturgegenständen das erkennen, was aus einem Willen normalerweise folgt, nämlich Handlung. Im Falle eines Flusses etwa, dass dieser laufend Güter hervorbringe und in vielerlei anderer Hinsicht auf nützliche Weise tätig sei. Wesche nennt das „Ökosystemdienstleitungen“. Er stellt die Regel auf: „Wertschöpfung rechtfertigt Eigentum“, und wenn sie gilt, verdient sich auch der Rhein seine Rechte als Energielieferant, ist er auch physikalisch berechtigt, den geologischen Titel „Strom“ zu tragen.Der Ansatz von Wesche kontert das Narrativ von den „Ökofaschisten“, deren Nachhaltigkeitsgesetze autoritäre Eingriffe seien, immanent. Die Beschwerde gegen die Ökologie vermutet deren Regulationen als politischen Übertritt in den bürgerlich ökonomischen Bereich. In dem Fall kämen sie von außen und rechtfertigten den Begriff der Fremdbestimmung. Mit Wesche aber entspricht die grüne Ethik des Verzichts ganz einem liberalen Verständnis von Eigentum und Freiheit, das auch die FDP unterschreiben müsste. Darin liegt die Eleganz seiner subversiven Konstruktion. Als Autor von Texten vornehmlich über die kritische Theorie war Wesche, der eine Professur in Oldenburg innehat, bislang eher einem Fachpublikum bekannt. Sein neues Buch beweist, dass Philosophie nicht im Elfenbeinturm stattfinden muss. Die Rechte der Natur ist eine Intervention ins Handgemenge. Die Natur soll mit bürgerlichen Kampfmitteln ausgestattet werden, um sich gegen die kapitalistischen Unternehmen behaupten zu können, die den körperschaftlichen Status von Rechtsentitäten schon besitzen. Wesche spricht von „Waffengleichheit“. Der Parteinahme im biologischen Partisanenkampf entspricht die utopische Vision einer nachhaltigen Gesellschaft, die das geschichtsphilosophische Ziel des Buches bezeichnet. Eigentumsrechte der Natur sind in dieser Hinsicht nichts anderes als „Türöffner der Gesellschaftstransformation“.Vorbild: ArbeiterbewegungDas Vorbild einer solchen Befreiungslehre kann nur die Arbeiterbewegung sein. Wesches Frankfurter Kollege Christoph Menke hat vor einigen Jahren in seiner viel beachteten Kritik der Rechte (Suhrkamp, 2018) dargelegt, weshalb der scheinbar zügellose Kapitalismus de facto mit einer Verrechtlichung der Verhältnisse einhergeht: Das Proletariat bedient sich in seinem Kampf gegen das Kapital des juridischen Instrumentariums, um Arbeitszeiten zu begrenzen oder in der Fabrik Sicherheitsvorkehrungen einzuführen. Bei Menke wird diese auf den ersten Blick begrüßenswerte Entwicklung kritisiert, weil sie den Antagonismus zwar in geregelte Bahnen lenken, auf diese Weise aber auch verewigen. Für Wesche indes ist das kein Problem, weil er die Auseinandersetzung ins Positive zu wenden weiß. Nicht das Recht wird kritisiert, der natürliche Klassenkampf ist das Vehikel der Emanzipation.Die ökologische Frage korrespondiert also mit der sozialen, die das 19. Jahrhundert beschäftigt hat. In dieser Linie überträgt Wesche die Doktrin der Sozialdemokratie auf das Problem der Nachhaltigkeit; dieser Zug ist politisch mit Sicherheit zukunftsweisend. Theoretisch aber könnte gefragt werden, ob die Sichtweise konsistent ist. Achtet derjenige den Fluss überhaupt als Fluss, der ihn personalisiert? Oder okkupiert die Rechtswissenschaft nicht auch im Gegenteil die natürliche Unmittelbarkeit seines individuellen Wesens mit ihren distanzierten, abstrakten Begriffskonstruktionen? Wie man weiß, steckt im lateinischen subiectum neben der Statusaufwertung auch die repressive Subsumption – die unterwerfende Einordnung in den Staat.Dialektik der Aufklärung und Kritische TheorieSolche Überlegungen sind Wesche keineswegs fremd, aber er denkt sie nicht konsequent zu Ende. Auf die „Dialektik der Aufklärung“ beruft er sich – aber eher halbherzig. Für die kritische Theorie war es wichtig, am Begriff der Natur auch das Verhängnisvolle zu erkennen. Da Letztere das Früheste der Menschheit bezeichnet, steht sie auch für ursprüngliche Gewalt und ist insofern nicht nur zu beschützen, sondern auch zu bekämpfen. Emanzipation erfolgt mit und gegen die Natur: Als „naturwüchsig“ bezeichneten Horkheimer und Adorno die unreflektierten Gesellschaftsbewegungen, weil sie wild wachsen wie ein Garten, um den sich keiner kümmert.Man kann das auch so formulieren, dass die von Wesche angestrebte „Waffengleichheit“ mit der Natur kein Friede ist. Die Versöhnung fehlt in seiner Perspektive, und vielleicht entgeht ihr darum auch, dass die Ahr, wenn sie das Saarland heimsucht, für ihren Feldzug keine Waffenlieferungen braucht. Der aus dem Ansinnen juristischer Schützenhilfe für die Natur sprechende Paternalismus ist doppelt schräg, weil es ja die Menschen sind und nicht Flüsse, die unter den Extremwettern leiden. Die Rechte der Natur schützen nicht dieselbe. Wenn es trotzdem praktikabel erscheint, den Naturphänomenen auch rechtliche Autonomie zuzusprechen, liegt das an der unvordenklichen Verwicklung von Mensch und Welt, die als Antagonismus aber ganz anders zu denken wäre. Materialistisch gesehen, operiert ein neuer Eigentumsbegriff lediglich auf der Ebene der Symptome.Karl Marx und die HundesteuerWesche muss den Einwand freilich nicht akzeptieren, da der ihm eigene Ansatz nur pragmatisch zu sein beansprucht. Seine Philosophie ist ganz der Zukunft zugewandt; sie will hauptsächlich funktionieren. In einer solchen halben Geschichtsphilosophie darf der Gesamtzusammenhang, darf die theoretische Rückbindung an das Allerfrüheste zweifelsohne fehlen. Und so ist es in einer gewissen Weise auch stringent, wenn Die Rechte der Natur darstellerisch nicht auf genetische Entwicklung setzt, sondern die trennende Methode der definitorischen Unterscheidung wählt. Wesches Philosophie ist generisch, nicht genetisch. Das gibt dem Text Präzision, ermüdet aber auch. Nicht selten hat man bei solcher Analytik den Eindruck des Tautologischen.Praktisch wendet Wesche die Mittel des Systems gegen dasselbe. Theoretisch bleibt er ihm verhaftet. Immer dann, wenn sich die Philosophie auch im Denken radikal gegen sich selbst gerichtet hat, war sie nicht nur subversiv, sondern auch witzig. Als Marx vom Projekt einer Hundesteuer in Frankreich hörte, empfand er Mitleid mit der lebendigen Kreatur: „Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!“Placeholder infobox-1
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