Empören statt Nachfragen: Und wann haben Sie zuletzt zugehört?
Debattenunkultur Öffentliches Streiten erschöpft sich immer häufiger in Entrüstung. Themen werden nicht mehr ergebnisoffen diskutiert. Zuhören ist out, zwei Lager verfestigen sich. Dagegen kann jeder etwas tun
Echte Auseinandersetzung? Lieber nicht. Polarisierung geht schneller und verkauft sich besser
Foto: Sebastian Mast/Connected Archives
Wir leben in einer Welt, die vollständig auf Empörung zugeschnitten ist. Waren Sie kürzlich mal auf Twitter/X? Die Kultur der Empörung lässt sich allerdings nicht mehr auf die Online-Blase reduzieren, wenngleich diese zunehmend Einfluss auf die Diskursführung in der materiellen Welt nimmt. Zeitungsartikel verkaufen sich besser, wenn sie Emotionen bemühen, ob durch Klickzahlen oder verkaufte Druckexemplare. Die Emotion der Stunde ist, ganz allgemein, Entrüstung! „Wie können die nur!?“ „Unfassbar!“
Das, womit die Bild-Zeitung seit Jahrzehnten Kasse macht, ist nun der gesellschaftliche Standard der politischen Berichterstattung, von der taz bis zur Welt, in unterschiedlichen Akzentuierungen: Je nach politischem Lager werden w
Das, womit die Bild-Zeitung seit Jahrzehnten Kasse macht, ist nun der gesellschaftliche Standard der politischen Berichterstattung, von der taz bis zur Welt, in unterschiedlichen Akzentuierungen: Je nach politischem Lager werden wir unter Bereitstellung von Minimalkontext mit der ungeheuerlichen Unvorstellbarkeit der Ansichten verschiedener Gruppen oder Individuen konfrontiert. Abgesehen von dem äußerst unangenehmen politischen Klima, das dadurch erzeugt wird, ist diese Kultur der Empörung für unsere Gesellschaft in mehrfacher Weise schädlich.Entrüstung ist erstens kurzlebig – oftmals ist nach wenigen Wochen vergessen, was gestern noch ein wütendes Aufbegehren wert war. Und schlimmer noch: Entrüstung lässt sich gern mit symbolischen Maßnahmen beschwichtigen. Da wird eine Begrifflichkeit geändert oder ein Disclaimer vorausgeschickt und eine Frage anscheinend bearbeitet – obwohl im Grunde nichts verändert worden ist.Wenn „Gut“ gegen „Böse“ kämpft, steht das Ergebnis vorher festWem das nicht reicht, der grenzt sich ab: Mit „denen“ haben wir schlicht nichts zu tun. Dem damit einreitenden und entrüsteten „Wie können die nur!?“ entspricht nicht das geringste Verlangen, die Motive der Vorverurteilten nachzuvollziehen. Die jeweiligen medialen Darstellungen geben sich allerhöchstens den Anschein der Analyse, deren Schlussfolgerung jedoch von vornherein feststeht und die somit keine ist. Entrüstung erlaubt keinerlei Nuancierung, nur eindeutige Zuordnung.Die Nichtnachvollziehbarkeit der Handlungen, Ansichten und Positionen der gesellschaftlich als „die Anderen“ Identifizierten wird so gleich vorab beschieden. Es kann nach dieser Logik keine akzeptablen Ursachen – oder auch nur plausible Hintergründe – für dieser Leute Fehlvorstellungen geben.Nach dieser Logik ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung entweder bösartig oder dumm, vermutlich aber beides. Damit ist eine saubere Spaltung der Gesellschaft hergestellt und gerechtfertigt, die verhindert, dass sich die einen mit den anderen auch nur hypothetisch auseinandersetzen. Vermeintliche Gutmenschen stehen vermeintlichen Nazis gegenüber, und das oftmals im Wortsinn, letzthin auch wieder zu Tausenden auf den Straßen und Plätzen des Landes. Ironischerweise verstehen sich beide Seiten als die jeweils wahren Verteidiger einer Demokratie, die durch just diese kategorische Trennung unmöglich gemacht wird.Haben wir lange mit Verachtung auf das US-amerikanische Zwei-Parteien-System geschaut, so sind wir doch gerade dabei, ein solches, zumindest gesellschaftlich, in gewisser Weise auch in unseren Parlamenten zu zementieren: die Guten gegen die Bösen; die Welt sauber getrennt.Umdenken? Niemals!Die Unvorstellbarkeit der Motive der anderen verhindert dabei eben jenen politischen Diskurs, der Demokratie überhaupt möglich macht. Jeder argumentiert aus seiner Blase für seine Blase; Überzeugungsarbeit kann nur für kleinste Details geleistet werden. Kein Gespräch, keine Diskussion ist mehr ergebnisoffen. Niemand ändert mehr seine Meinung, niemals. Das betrifft die aufgeregte Diskussion auf Social-Media-Plattformen wie Twitter/X und anderen genauso wie Talkshow-Debatten, Friedensverhandlungen internationaler Konflikte oder Redebeiträge im Deutschen Bundestag. Jede Äußerung ist mithin Selbstvergewisserung der eigenen Reihen; niemand macht sich auch nur die Illusion, den Argumenten der Gegenseite aus einem anderen Grund als dem zuzuhören, sie möglichst sofort zu widerlegen – auch und gern mit den billigsten rhetorischen Mitteln. Inhaltliche Auseinandersetzung: nicht erwünscht.Wir sind festgefahren in unserer Welt und unserer Meinung und wundern uns, warum es so schlecht um die Demokratie steht. Warum die Wahlbeteiligung sinkt, warum wir die AfD-Wähler nicht vom Unrecht ihres Tuns überzeugen können, warum all die scheinbar Denkbetreuten den Darstellungen der Medien glauben. Wir stecken fest.Nüchtern bleiben: Mehr Analyse, weniger BewertungBereits der italienische Theoretiker Antonio Gramsci hatte sich in den Gefängnisheften überlegt, wer am ehesten in der Lage sei, die politischen Realitäten zu verändern: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“Es steckt sehr viel in diesem kleinen Zitat – erheblich mehr, als dieser kurze Beitrag diskutieren kann. Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens, allein darüber könnte und sollte man Bücher schreiben. Für unsere Zwecke noch wichtiger ist aber die Nüchternheit, der trockene, leidenschaftslose Blick auf die Tatsachen, der den Sehenden in die Lage versetzt, über ein wohlfeiles „Wie können die nur!?“ hinauszugehen und die eigentlich zielführenden Fragen zu stellen.Die aber lauten: Was ist tatsächlich zu sehen, jenseits von Bewertung, Aufladung und Projektion? Vor welchen Hintergründen sind die Tatsachen zu betrachten? Was ist eigentlich zuvor passiert? Und wiederum davor?Wer analysiert, will Dinge in solcher Weise nachvollziehen. Hier ist natürlich zu betonen, dass „nachvollziehen“ nicht „entschuldigen“ oder gar „rechtfertigen“ bedeutet. Das kann es schon deshalb nicht, weil Wertungen in diesem Schritt keine Rolle spielen. Analyse soll nüchtern sein, leidenschaftslos. Wer unbedingt bewerten will, tue das bitte im Anschluss daran.Meinung ändern verboten?Oftmals stellt sich zudem heraus, dass mit der Bewertung kein weiterer nützlicher Schritt getan worden ist, um ein Problem zu bearbeiten. Bisweilen ist sogar festzustellen, dass die Bewertung einer Lösung geradezu im Wege stehen kann. Die – zunächst in diesem Sinne wertfreie – Analyse erlaubt es hingegen, zu den Ursachen und in den Kern des Problems vorzudringen, statt sich über die Symptome erschöpfend zu ereifern und Aktionismus an der Oberfläche zu betreiben. Nüchternheit ist auch nötig, um eine Meinungsbildung zumindest aufzuschieben, je länger, desto besser. Denn wer eine Meinung erst einmal gefasst hat, rückt von dieser nur in Ausnahmefällen ab. Was uns gewöhnlichen Menschen persönlich schon so schwer fällt, ist für Menschen in der Politik geradezu verboten.Man kann durchaus nach der Wahl das Gegenteil von dem tun, was man zuvor angekündigt hat – aufgrund zum Beispiel veränderter politischer Umstände, neuer Koalitionspartner, des vorhandenen oder nicht vorhandenen Geldes. Niemals aber ändere man als Politiker aus Sicht des Publikums die eigene Meinung, auch nicht angesichts neuer Informationen.Sollte aber eine Demokratie nicht in der Lage sein, sollte sie nicht sogar geradezu danach streben, so viel Verständnis wie möglich aufzubringen, um basierend auf dem besseren Verstehen, das so ermöglicht wird, eine Frage auch besser zu entscheiden?Stellen Sie sich für einen Moment einmal eine Welt vor, in der wir tatsächlich und völlig wertfrei an den Hintergründen interessiert sind. Wir könnten uns fragen, weshalb so viele Leute im Osten die AfD wählen – und ich meine tatsächlich: fragen. Ohne anzunehmen, dass wir es eigentlich schon immer wissen. So ist es mit vielen polarisierenden Fragen: Warum tötet und verschleppt die Hamas israelische Zivilisten? Warum bombardiert Israel palästinensische Flüchtlingslager? Warum wollten sich seinerzeit manche Mitmenschen partout nicht impfen lassen? Warum wollten andere sogar strengere Auflagen zur Bekämpung der Covid-Pandemie? Warum wollen die Bewohner dieser oder jener Stadt auf dem Land keine Flüchtlingsunterkunft bei sich?Merken Sie, wie Ihnen schon das Blut hochkocht, wenn einige dieser Fragen auch nur gestellt werden? Das ist gut. Denn wo solcher Widerstand spürbar wird, da kann auch eine Entwicklung stattfinden.Wer aufhört zu fragen, denkt nicht weiterUm solche und ähnliche Fragen überhaupt aufzuwerfen und sich dann noch nüchtern auf die Suche nach Antworten zu begeben, braucht es eine Reihe menschlicher Tugenden. Diese müssen wir zunächst in uns selbst kultivieren, damit wir in einem weiteren Schritt diejenigen zu Politikerinnen machen, die diese Tugenden aufweisen. Da muss man vorübergehend das eigene Ego suspendieren und wirklich zuhören können oder auch mal unangenehme Gespräche aushalten. Es hilft überdies ungemein, wenn man für einen gewissen Zeitraum mal ganz prinzipiell an das Gute im Menschen glaubt – und sei es nur für einen kurzen Moment!Wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die andere Seite Gründe hat, so zu handeln und zu denken, wie sie es tut, dann müssen wir notwendigerweise erwägen, dass diese Gründe verständlich, vielleicht sogar gleichwertig mit unseren sein können. Welche Umstände haben dazu geführt, dass mein Nachbar zu einer anderen Haltung gefunden hat als ich? Wäre ich unter denselben Umständen vielleicht zum gleichen Schluss gekommen?Die Antwort auf eine solche Selbstbefragung darf natürlich auch negativ ausfallen, aber man sollte in der Lage sein und sich selbst gestatten, die Frage zu denken. Oder man erlaubt sich gar, in der einen oder anderen Angelegenheit zu keinem Schluss zu kommen. Der Schluss ist nämlich genau das: das Ende des Fragens, oft sogar das Ende des Denkens.Wie wäre es, wenn wir weiter fragten, statt gleich nach der ersten einfachen Antwort zu greifen? Wenn wir die Komplexität des menschlichen Zusammenlebens anerkennen könnten, Grautöne wahrnehmen und Widersprüchlichkeiten erduldeten? Was, wenn wir mangels zuverlässiger Informationen hier und da mal zu keiner festen Meinung kämen?Das wäre dann natürlich die ganz hohe Schule der demokratischen Debatte.
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