Durchregieren per Dekret

Infektionsschutzgesetz Die parlamentarische Demokratie befindet sich im Ausnahmezustand. Das muss sich endlich ändern
Ausgabe 47/2020
„It is like it is“, Mahnmal Dennis Josef Mesegs zur Corona-Krise, Köln, 11. November 2020
„It is like it is“, Mahnmal Dennis Josef Mesegs zur Corona-Krise, Köln, 11. November 2020

Foto: Christoph Hardt/Future Image/imago images

Längst hat die „Corona-Krise“ zu einer Demokratie-, Rechtsstaats- und Verfassungskrise geführt – der „Lockdown light“ in diesem Monat ist das aktuellste Beispiel. Er trifft Kultureinrichtungen und Veranstalter, Gastronomie und Hotelbranche mit voller Härte – trotz weitgehend funktionierender Hygienekonzepte.

Manche dieser tief ins private und öffentliche Leben eingreifenden Maßnahmen erscheinen hilflos, aktionistisch und wenig begründet. Jedenfalls sind sie, isoliert betrachtet, weder wirklich nachvollziehbar, noch dürften sie verhältnismäßig sein. Ganz abgesehen davon, dass die Rechtsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz, auf denen sie beruhen, mangels hinreichend konkreter Regelungen alles andere als rechtssicher sind. Das bundesweite Verbot von Hotel-Übernachtungen ist letztlich die Neuauflage eines Desasters, das Gerichte schon mehrfach gerichtlich gestoppt haben: das „Beherbergungsverbot“. Das heißt, die Exekutive fühlt sich angesichts der Dringlichkeit von Abwehrmaßnahmen offensichtlich nicht mehr durchgängig an Recht und Rechtsprechung gebunden. In weniger angstbesetzten Zeiten wäre das ein handfester Skandal.

Das müsste zu denken geben

So sind nun also wieder die Gerichte gefordert, die neuen Verordnungen auf Recht- und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu kippen – auch wenn dies nicht gleich im Eilverfahren klappt. Längst aber hat die Justiz in bald 100 Fällen frühere Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Allein das müsste zu denken geben.

Hinzu kommt ein weiteres Manko: Sämtliche Corona-Maßnahmen in Bund und Ländern basieren auf Regierungsdekreten – ohne vorherige parlamentarische Debatte und Beschlussfassung. Das dürfte verfassungswidrig sein, weil es doch um massive Eingriffe in elementare Grundrechte geht, verbunden mit schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sowie Langzeitschäden. In solchen Fällen ist die parlamentarische Demokratie gefordert: mit kontroversen Debatten zwischen Regierung und Opposition, mit Rechtsgüter-Abwägungen und Beschlüssen. Doch die parlamentarische Demokratie leidet ganz offensichtlich unter der Corona-Abwehrpolitik. „Die Angst vor der Krankheit hat die Demokratie aufgegessen“, schrieb Jakob Augstein im Freitag. Hans-Jürgen Papier, früher Bundesverfassungsrichter, warnt vor einer „Erosion des Rechtsstaats“.

Jetzt rächt sich auch, dass sich der Bundestag mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes Ende März 2020 und der Ausrufung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ – einer Art „Gesundheitsnotstand“ – seiner Rechte selbst begeben und weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse auf die Regierungen übertragen hat. Das bedeutet eine weitere Verschiebung des politischen Machtgefüges zugunsten der Exekutive und eine Missachtung des Gewaltenteilungsprinzips. Die durch Wahlen demokratisch legitimierte Volksvertretung stellte sich so selbst ins Abseits, beförderte die gerade in Krisenzeiten ohnehin wachsende Dominanz der Exekutive – und befördert damit auch die Schwächung der Demokratie.

Wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik haben Bundes- und Landesregierungen in der ausgerufenen „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, die an keinerlei gesetzliche Voraussetzungen geknüpft ist, flächendeckend elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt und ausgesetzt: allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit, den Schutz von Ehe, Familie und Kindern, Freiheit der Berufsausübung, Gewerbe- und Reisefreiheit. Das private, soziale, kulturelle, religiöse und in weiten Teilen wirtschaftliche Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Einwohner:innen ist betroffen und kommt in einem solchen Ausnahmezustand partiell zum Erliegen. Diese massiven Grundrechtseinschränkungen erfolgen mit dem erklärten – und nachvollziehbaren – Ziel, die Infektionszahlen zu senken, das teils krankgesparte Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen.

Derzeit unternimmt die Bundesregierung Versuche, die Rechtsgrundlagen zur Corona-Abwehr rechtsstaatlich nachzubessern: So legte sie ein „Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vor, mit dem das Infektionsschutzgesetz (IfSG) novelliert werden soll. Das Gesetz soll an diesem Mittwoch im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht und vom Bundespräsidenten unterzeichnet werden, alles an einem Tag.

Bislang stützten sich die Verordnungen – auch die des aktuellen „Lockdown light“ – weitgehend auf eine vage Generalklausel („notwendige Schutzmaßnahmen“) im IfSG. Doch eine solche unzulängliche „Rechtsgrundlage“ vermag weitreichende, längerfristige Grundrechtseinschränkungen für die gesamte Bevölkerung keinesfalls zu rechtfertigen. Aus diesem längst bekannten Grund fürchtet die Große Koalition zu Recht, dass zuständige Gerichte bereits durchgesetzte Lockdown-Maßnahmen mangels wirksamer Rechtsgrundlagen reihenweise kippen werden. Deshalb sollen die bislang offensichtlich ungesetzlichen Maßnahmen nun in Windeseile nachträglich und für die Zukunft legalisiert und gerichtsfest gemacht werden.

Zu diesem Zweck wird mit Paragraf 28a eine neue Ermächtigungsgrundlage ins IfSG eingefügt. In dieser Norm mit dem Titel „Besondere Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2“ werden alle bislang in der Praxis „erprobten“ Corona-Zwangsmaßnahmen während einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ in Gesetzesform gegossen, noch erweitert und präzisiert: so etwa Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im privaten und öffentlichen Raum, Maskenpflicht und Veranstaltungsverbote, Schließung von Betrieben und Geschäften, Schulen und Kitas, Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Zur Verabschiedung dieser und anderer Sonderrechte werden nun einmalig Bundestag und Bundesrat benötigt. Doch trotz inzwischen lauterer Forderungen nach stärkerer Beteiligung der Parlamente bleibt alles Weitere auch künftig den Regierungen in Bund und Ländern überlassen, um eine „maximale Flexibilität der Exekutive“ in diesen Pandemie-Zeiten zu gewährleisten. Durchregieren per Dekret soll also bedenklicher Normalzustand bleiben.

Zwar gibt es mitunter parlamentarische Debatten in Bund und Ländern über exekutive Corona-Verordnungen. Doch damit ist es keinesfalls getan, wenn die Verordnungen von den Regierungen bereits in weitgehend intransparenten Verfahren beschlossen worden sind und Debatten folgenlos bleiben – Exekutiventscheidungen von besonderem Gewicht bedürfen unstreitig parlamentarischer Zustimmung. Das entspricht Demokratiegebot, Parlamentsvorbehalt und Rechtsstaatsprinzip. Die IfSG-Novellierung erfüllt diese Kriterien nicht.

Entsprechend fiel das Urteil der juristischen Sachverständigen überwiegend negativ aus. Diese Novelle genüge weder dem Bestimmtheitsgrundsatz bezüglich eingriffsintensiver Bekämpfungsmaßnahmen noch dem Parlamentsvorbehalt. Zu erkennen sei keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen – offenbar gehe es lediglich darum, das bisherige Vorgehen zu legitimieren. So jedenfalls halte die Gesetzesänderung einer verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.

Um den Ausnahmezustand der parlamentarischen Demokratie zu beenden, müssen Bundestag und Länderparlamente zwingend federführend an Beratungen wie Entscheidungen über Abwehrmaßnahmen beteiligt werden. So viel Zeit muss in einem demokratischen Rechtsstaat auch in Zeiten schwerer Krisen sein. Nur so kann sich die Legislative Abwägungs- und Willensbildungsprozesse zurückerobern. Nur so sind Entscheidungen demokratisch legitimiert. Nur so kann die mit der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ erworbene Machtfülle eines dirigistischen Verordnungsstaates zurückgedrängt werden. Denn Videokonferenzen mit Kanzlerin und Ministerpräsident:innen sind kein verfassungsmäßiges, demokratisch legitimiertes Organ, das solche schwerwiegenden Entscheidungen allein treffen kann.

Berücksichtigung sollte bei alldem finden, was allzu häufig in Vergessenheit gerät: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen rigider Restriktionen müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene und differenzierende Abwägung zwischen Grund- und Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden.

Lehren für die Zukunft

Demokratisch legitimierte, verfassungsmäßige Abwägungen von Rechtsgütern können vor absolutistischen Entscheidungen und totalitären Visionen einer virenfreien Gesellschaft schützen. Das Grundgesetz kennt kein „Supergrundrecht Gesundheit“, das andere Grundrechte in den Schatten stellt, ebenso wenig ein „Supergrundrecht Sicherheit“. Auch die Lebenschancen gerade sozial benachteiligter Menschen sind angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.

Es braucht zudem unabhängige interdisziplinäre Kommissionen in Bund und Ländern unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Deren Aufgabe sollte sein, die Politik in der „Corona-Krise“ kritisch zu begleiten sowie Erforderlichkeit, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre Folgen zu evaluieren. Aus so gewonnenen Erkenntnissen ließen sich Lehren ziehen für eine differenziertere, verhältnismäßige Bewältigung der weiteren Corona-Entwicklung und künftiger Pandemien. Wir brauchen eine längerfristige Strategie, um nicht weiter von einem Lockdown in den anderen getrieben zu werden und dabei den sozialen Zusammenhalt gänzlich zu verlieren.

Auch in Zeiten großer Gefahren und Angst muss man, um einen Gedanken Heribert Prantls in der Süddeutschen Zeitung aufzugreifen, nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen eine Stimmung, die in Krisenzeiten den demokratischen Rechtsstaat sowie Grund- und Bürgerrechte als Ballast, Bürde oder Luxus betrachtet. Diese Stimmung ist, trotz vermehrter Unruhe, Skepsis und Gegenrede, noch längst nicht überwunden.

Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Mitherausgeber des Grundrechte-Reports, ist Träger des Hans-Litten-Preises 2020. Jüngst erschienen seine Broschüre Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu „neuer Normalität“ und den Folgen sowie sein Beitrag im Band Lockdown 2020. Wie ein Virus benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern.

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