Julian Assange: Nicht nur Olaf Scholz spricht sich gegen seine Auslieferung aus
Europa Olaf Scholz überrascht mit Worten gegen die Auslieferung von Julian Assange an die USA. Im Europaparlament fordern Politiker das Ende der perfiden Verfolgung des Journalisten. Und die Nachfolgerin von Nils Melzer bei den UN wird deutlich
Unterstützer von Julian Assange in London, bei einem der zahlreichen Proteste gegen eine Auslieferung des Wikileaks-Gründers von Großbritannien an die USA
Foto: Tolga Akmen/AFP/Getty Images
Dieser Tage war Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Besuch an der Gottlieb-Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen – Schüler hatten die Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen. Zumindest ein Schüler interessierte sich für seine Meinung zum Fall des australischen Journalisten und Verlegers Julian Assange, und Bundeskanzler Scholz sprach sie aus: „Ich bin der Meinung, dass es schon gut wäre, wenn die britischen Gerichte ihm den notwendigen Schutz gewähren.“
„Der Deutsche Journalisten-Verband begrüßt den Einsatz von Bundeskanzler Olaf Scholz für Wikileaks-Gründer Julian Assange im Auslieferungsersuchen der USA“, schrieb der DJV daraufhin. Und Martin Sonneborn, Abgeordneter der Partei im Europäischen Parlament und stets l
220;, schrieb der DJV daraufhin. Und Martin Sonneborn, Abgeordneter der Partei im Europäischen Parlament und stets lauter Unterstützer Assanges, meinte: „Dem Schüler, der die Frage gestellt hat, spendieren wir 1 Bier. Und Olaf Scholz auch.“Ende Februar erschien Assanges Verteidigungsteam vor der zuständigen, zweiköpfigen Kammer des High Court in London aus der „Präsidentin der königlichen Richterbank“, Victoria Sharp, und The Honourable Mr Justice Jeremy Johnson. Sie beantragten, beim Obersten Gerichtshof Berufung gegen eine Entscheidung von Lord Justice Timothy Holroyde und Lord Chief Justice Burnett of Maldon einlegen zu dürfen, die ihrerseits die Entscheidung der Bezirksrichterin Vanessa Baraitser, den Auslieferungsantrag der USA im Januar 2021 abzulehnen, aufgehoben hatten. Nach einem vierwöchigen Auslieferungsverfahren Ende 2020 war Richterin Baraitser zu dem Schluss gekommen, dass „die Haftbedingungen, unter denen Herr Assange wahrscheinlich festgehalten werden würde“ und „der psychische Zustand von Herrn Assange so [sind], dass es bedrückend wäre, ihn an die Vereinigten Staaten von Amerika auszuliefern.“Wenn dieser Antrag Assanges auf Zulassung der Berufung abgelehnt wird und wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht eingreifen kann, dann ist der britische Innenminister dafür verantwortlich, die Auslieferung von Assange zu genehmigen. Sollte er in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt und verurteilt werden, droht ihm möglicherweise eine lebenslange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe.Assange in StraßburgDass ein deutscher Bundeskanzler sich gegen die Auslieferung Assanges ausspricht – „denn die Vertreter der Vereinigten Staaten konnten den britischen Richtern bei der letzten Verhandlung nicht zusichern, dass sich die mögliche Bestrafung in einem aus der Sicht Großbritanniens vertretbaren Rahmen bewegt“, so Olaf Scholz – passt zur zuletzt wieder lauter vernehmbaren Unterstützung für den Wikileaks-Gründer auf internationaler Ebene. Während einer abendlichen Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg gaben zuletzt ein Dutzend Abgeordnete Erklärungen zur Auslieferung und Verfolgung Assanges sowie den „Auswirkungen für die Pressefreiheit“ ab. Die Debatte, eröffnet und beendet von Thierry Breton – EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt–, war auf Initiative der Piratenpartei auf die Tagesordnung gekommen.Deren dafür maßgeblicher Europaabgeordneter Patrick Breyer und 45 weitere Abgeordnete verschiedener Fraktionen haben an den britischen Innenminister appelliert, „den Schutz und die Sicherheit von Julian Assange zu gewährleisten, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen und seine Auslieferung zu verhindern“. Parallel dazu hat eine Gruppe von 75 Abgeordneten des Deutschen Bundestages, angeführt vom Grünen Max Lucks, „die unverzügliche Freilassung von Julian Assange“ gefordert. Lucks und 37 weitere Abgeordnete hatten sich bereits im Mai 2022 mit einem offenen Brief an das britische Parlament gewandt, in dem es hieß: „Wir machen mit diesem interfraktionellen Brief darauf aufmerksam, dass eine Auslieferung von Herrn Assange nicht nur rein juristisch betrachtet werden kann. Journalistinnen weltweit, aber auch der Europarat als oberster Hüter der Menschenrechte schauen auf diesen Fall mit seiner Signalwirkung.“Der Europarat selbst hat sich nicht mündlich zum Thema geäußert. Es ist jedoch bemerkenswert, dass er in seiner jüngsten jährlichen Bewertung der Pressefreiheit Assange als einen der „inhaftierten Journalisten und anderen Medienschaffenden“ in Europa aufführt. EU-Kommissar Breton, früherer französischer Finanzminister, betonte zu Beginn jener Debatte im Europäischen Parlament den Wert der freien Meinungsäußerung und des Rechts auf Information. Er sprach von einem „empfindlichen Gleichgewicht“ zwischen „dem Schutz der nationalen Sicherheit und dem Recht der Öffentlichkeit, über mögliche Bedrohungen des öffentlichen Interesses informiert zu werden“. Er schloss mit der Erklärung, dass „die EU das Gerichtsverfahren verfolgt und sich nicht zu dem laufenden Gerichtsverfahren äußert“. Darüber, dass er selbst Gegenstand von Wikileaks-Enthüllungen gewesen war, verlor Breton kein Wort – im Sommer 2005 offengelegte US-Depeschen zitierten Breton als Finanzminister häufig, etwa mit den Worten „Ich privatisiere alles, was ich privatisieren kann“.Das von Breton betonte „empfindliche Gleichgewicht“ zwischen nationaler Sicherheit und dem Recht der Öffentlichkeit, über staatliche Kriegsverbrechen Bescheid zu wissen, war genau der Punkt, den die britische Richterin Baraitser nach Ansicht der Assange-Verteidigung bei ihrer Vorbereitung des Urteils vom Januar 2021 nicht berücksichtigt hat. Der Sachverhalt der in Rede stehenden Veröffentlichungen betrifft keine „potenziellen Bedrohungen“, sondern tatsächliche und laufende Kriegsverbrechen mit zivilen Opfern, die andernfalls nicht erfasst worden und der Öffentlichkeit unbekannt geblieben wären. Die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen werden weiter von jeder Rechenschaftspflicht abgeschirmt, durch mehrere aufeinanderfolgende US-Regierungen wie durch deren europäische Verbündete. Die USA erwarten vom Rest der Welt, dass er sich Institutionen wie den Vereinten Nationen und dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) verpflichtet, entziehen sich aber selbst absichtlich der Kontrolle durch diese Institutionen.Der Vorwurf, Informanten gefährdet zu habenDerweil sahen und sehen sich diejenigen, die die Öffentlichkeit über diese Verbrechen informiert haben – wie Chelsea Manning oder Julian Assange – mit Inhaftierung konfrontiert, und das aufgrund der nicht belegten Behauptung, durch ihr Handeln seien Informanten zu Schaden gekommen und in Gefahr geraten. Während des Kriegsrechtsverfahrens gegen Manning 2013 räumte der ranghohe, für die Untersuchung der Auswirkungen der Enthüllungen zuständige US-Offizier für Spionageabwehr, Robert Carr, ein, kein einziges konkretes Beispiel dafür nennen zu können, dass eine Person durch die Veröffentlichung der Dokumente zu Schaden gekommen sei. Das untergrabe erheblich die eigene Argumentation, schrieb damals der Guardian.EU-Kommissar Breton hat seine Abwägungsprüfung also weder begründet noch neue Fakten vorgelegt, er hat ausschließlich leere Phrasen gedroschen. Dem kam, mit den Worten „Wir sollten Vertrauen in das britische Rechtssystem als Rechtsstaat haben“ sonst fast nur der christdemokratische Angeordnete Jiří Pospíšil aus der Tschechischen Republik nahe, die allermeisten anderen EU-Abgeordneten aus diversen Fraktionen und EU-Staaten positionierten sich klar, so etwa der sozialdemokratische slowenische Europaabgeordnete Milan Brglez: „Ich hoffe, dass über die Auslieferung von Assange nach den höchsten internationalen Rechtsstandards entschieden wird, bevor der Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt, denn das Abwarten seines Urteils, nachdem die Auslieferung bereits vollzogen wurde, könnte unumkehrbare Folgen haben. Das europäische System des Menschenrechtsschutzes würde von innen heraus zerstört, und unsere Kritik an Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt, hier im Europäischen Parlament, würde durch die offensichtliche Doppelmoral bedeutungslos gemacht werden.“Sabrina Pignedoli vom Movimento 5 Stelle aus Italien, die die Anhörung vor dem High Court in London im Februar vor Ort verfolgt hatte, rief: „Die Schikanen gegen Assange sind eindeutig politischer Natur. Wenn die US-Linie durchkommt, könnte theoretisch jeder Journalist das gleiche Schicksal erleiden wie Assange. In den europäischen Institutionen schwärmen wir von Pressefreiheit und der Achtung der Menschenrechte, aber für die Freilassung von Assange wird kein Finger gerührt.“ Markéta Gregorová von der tschechischen Piratenpartei, Mitglied der Grünen-Fraktion im Europa-Parlament, sagte: „Ich stehe vor Ihnen, um auch meine unerschütterliche Unterstützung für das zu bekunden, wofür Julian Assanges Arbeit steht: das Recht der Bürgerinnen und Bürger, vor staatlichem Machtmissbrauch geschützt zu werden, informiert zu werden, und das Recht für Journalisten wie auch für Einzelpersonen, solchen Missbrauch aufzudecken und keine Strafe zu fürchten. Man kann sich seinen Lieblings-Whistleblower nicht aussuchen. Entweder man steht auf der Seite aller oder auf der von gar keinem.“„Den hohen Grad der Politisierung dieses Themas zurückweisen“ wollte hingegen der christdemokratische tschechische Abgeordnete Stanislav Polčák. Doch das ist ein Denkfehler: Diese Politisierung kommt nicht von außen, sondern von innen – das ist die grundlegende Natur des Falles selbst.Denn das proklamierte „Opfer“ im Fall Vereinigte Staaten von Amerika gegen Julian Paul Assange ist der Staat selbst. In der Anklageschrift, die in der Regierungszeit Donald Trumps angefertigt wurde, wird Assange in 17 Fällen der Spionage angeklagt. Spionage ist per Definition ein politisches Verbrechen, das oft in die gleiche Kategorie wie Hochverrat oder Aufruhr fällt, worauf in den USA die Todesstrafe steht. Laut AP News hat kein Präsident in den vergangenen 120 Jahren so viele Hinrichtungen auf Bundesebene veranlasst wie Trump.Der Auslieferungsvertrag zwischen den USA und GroßbritannienPolitische Straftaten sind in der Regel von internationalen Verträgen zu Auslieferungen ausgenommen. Das Risiko, dass die Todesstrafe verhängt wird, ist historisch gesehen ein weiteres Auslieferungshindernis. Der Auslieferungsvertrag zwischen den USA und Großbritannien besagt ausdrücklich, dass „die Auslieferung nicht bewilligt wird, wenn die Straftat, für die die Auslieferung beantragt wird, eine politische Straftat ist“, oder wenn „das Ersuchen politisch motiviert ist“ (Artikel 4). – „Julian Assange ist vor Auslieferung geschützt, weil Spionage eine rein politische Straftat ist und somit unter die Kategorie der Straftaten fällt, die nach Artikel 4 von der Auslieferung ausgenommen sind“, schrieb die Verteidigung Julian Assanges in ihrem Schlussplädoyer für den Prozess 2020.Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Paul Rogers hat während des Auslieferungs-Verfahrens zur Frage, ob Assange dem Risiko eines politisch motivierten Verfahrens ausgesetzt sei, ausgesagt: „Angesichts der völlig gegensätzlichen Positionen in Sachen Transparenz der Handlungen von Regierungen, insbesondere in Bezug auf das Führen von Kriegen, gestützt durch die Forderung der Regierung nach Geheimhaltung aus Gründen der nationalen Sicherheit, besteht die Gefahr einer politisch motivierten Strafverfolgung für diejenigen, die solche Geheimnisse aufdecken, ganz klar.“ Noam Chomsky stimmt dem zu: „Julian Assanges Handlungen, die als kriminell eingestuft wurden, sind Handlungen, die die Macht ans Licht bringen, sind Aktionen, die die Macht dem Sonnenlicht aussetzen – Aktionen, die dazu führen können, dass die Bevölkerung die Gelegenheit ergreift, unabhängige Bürger einer freien Gesellschaft zu werden anstatt Untertanen eines Herrschers, der im Verborgenen agiert … Seine Handlungen wiederum haben dazu geführt, dass er auf grausame und unerträgliche Weise verfolgt wird.“Journalisten, die sich in den USA mit Themen beschäftigen, die Fragen der nationalen Sicherheit betreffen, und dabei Regierungs-Leaks zitieren, tun dies oft mit Wissen und Segen des Staates – strafrechtliche Verfolgung riskieren sie nur, wenn sie die Schwelle überschreiten, von der an staatliche Stellen eine Schädigung des Ansehens des Staates wittern. Der Espionage Act von 1917 wurde vom US-Justizministerium schon unter mehreren Regierungen gegen deren politische Gegner oder Kritiker eingesetzt. Der Fall Assange ist insofern beispiellos, als noch nie ein Journalist oder Verleger auf der Grundlage des Espionage Act strafrechtlich verfolgt wurde, wie Ralph Engelman und Carey Shenkman, letzterer 2020 Sachverständiger im Verfahren gegen Assange, in ihrem Buch A Century of Repression: The Espionage Act and Freedom of the Press zeigen.Die drohende Todesstrafe gegen AssangeDarüber hinaus kann nach dem Auslieferungsvertrag zwischen den USA und Großbritannien bei einer Straftat, die mit der Todesstrafe bedroht ist, die Auslieferung verweigert werden, es sei denn, der ersuchende Staat gibt Zusicherungen, dass die Todesstrafe nicht verhängt oder vollstreckt wird. Aus der zweitägigen Anhörung im Februar ging hervor, dass die USA bisher keine derartige Zusicherung gegeben haben. Ben Watson, Vertreter des britischen Innenministeriums, sagte den Richtern, dass es „schwierig“ sei, solch eine Zusicherungen zu erhalten. Die Vertreter der USA, Clair Dobbin und Joel Smith, widersprachen dem nicht. Die USA behalten sich außerdem das Recht vor, später weitere Anklagepunkte hinzuzufügen.Im Europaparlament blickte der linke portugiesische Abgeordnete João Pimenta Lopes zu EU-Kommissar Breton, als er sagte: „Es ist an der Zeit, dieses Schweigen zu beenden, das die Heuchelei widerspiegelt, mit der sie an die freie Meinungsäußerung und die freie Ausübung des Journalismus herangehen, die auf der Strecke bleibt, wenn es um die Veröffentlichung von Kriegsverbrechen geht, wie im Fall von Julian Assange.“ Martin Sonneborn (Die Partei) sagte: „Wenn dieselbe EU, die elaborierte Langzeitstudien zu Plastikdeckeln an Milchtüten zustande bringt, ausgerechnet zu Assange seit 13 Jahren nicht das Geringste zu sagen hat, dann könnte sie deutlicher nicht zeigen, für welche Gesellschaft und für welche Werte sie in Wahrheit steht. Vergessen Sie nie: Ihre Freiheit ist nicht am Hindukusch verteidigt worden. In Wahrheit geht sie gerade in einer Zelle eines britischen Hochsicherheitsgefängnisses zugrunde, auf einer Fläche von sechs Quadratmetern.“ Und der unabhängige italienische Abgeordnete Dino Giarrusso, früher Journalist und Movimento-5-Stelle-Mitglied, fragte: „Was ist das für ein Europa, das nicht mit aller Kraft für die Freilassung von Julian Assange kämpft? Wir nehmen Worte wie Freiheit, Menschenrechte, Respekt, Pluralismus in den Mund. Sind diese Dinge nur gut für Filme, für Märchen?“Viele Aspekte des Auslieferungsverfahrens, insbesondere schon in dessen Vorfeld, sind abnormal. Laut einer Untersuchung der Journalisten Zach Dorfman, Sean D. Naylor und Michael Isikoff, die im September 2021 veröffentlicht wurde, hatten Präsident Trump, der Direktor des US-Geheimdienstes CIA und spätere Außenminister Mike Pompeo und andere Agenten „vorgeschlagen, Assange aus der Botschaft zu entführen und ihn heimlich über ein Drittland in die Vereinigten Staaten zurückzubringen – ein Verfahren, das als außerordentliche Überstellung bekannt ist.“ Außerordentliche Überstellungen sind ein Euphemismus für staatlich geförderte Entführungen, die unter Umgehung eines ordentlichen Verfahrens durchgeführt werden und wichtige Menschenrechtsgarantien unterminieren. Ihre Quellen, „mehr als 30 ehemaligen US-Beamten – acht von ihnen beschrieben Details der CIA-Vorschläge zur Entführung von Assange –“, wussten von „einer Diskussion mit den Briten über das Hinhalten der anderen Wange“ während der Entführung. Die Briten sollen diese Idee nicht gebilligt haben; gleichzeitig hat sich kein Vertreter der britischen Regierung, der von dieser Diskussion wusste, gemeldet, um sie zu bestätigen oder zu dementieren. Pompeo sprach sich für die strafrechtliche Verfolgung der Quellen des Nachrichtenartikels darüber aus, was als originelle Art und Weise gelesen werden könnte, ihn zu bestätigen.Wie in der EU hingegen über Alexej Nawalny und Russland geredet wirdWenn ein ordnungsgemäßes Verfahren durch eine politisch kompromittierte Justiz und eine von einer US-Grand-Jury erlassene Anklageschrift, die sich auf illegal und extralegal erhobene Beweise stützt, behindert wird, – dann ist es nicht nur angemessen, dass die Staats- und Regierungschefs anderer Länder eingreifen, sondern es ist förmlich ihre Pflicht, dies zu tun.EU-Vertreter haben in anderen Fällen bewiesen, dass sie dies sehr wohl verstehen. Nur wenige Stunden vor der Debatte über Julian Assange hörten wir Erklärungen von Dutzenden von Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die auf den Tod des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny reagierten und „die Notwendigkeit von EU-Maßnahmen zur Unterstützung politischer Gefangenen und der unterdrückten Zivilgesellschaft in Russland“ betonten.Der erste Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, eröffnete diese Debatte. Anders als bei der Assange-Debatte gab es sowohl vom Rat als auch von der Kommission ausführliche Erklärungen. Mathieu Michel, belgischer Staatssekretär und Bruder des Ratspräsidenten Charles Michel, sprach im Namen des Rates: „Russland muss eine unabhängige und transparente internationale Untersuchung der Umstände seines plötzlichen Todes zulassen. Wir wiederholen auch den internationalen Aufruf an Russland, alle anderen politischen Gefangenen, die unter ähnlich schrecklichen Bedingungen festgehalten werden, unverzüglich und bedingungslos freizulassen … Die EU wird keine Mühen scheuen, um die politische Führung und die Behörden Russlands in enger Abstimmung mit unseren Partnern zur Rechenschaft zu ziehen, auch durch weitere Sanktionen.“ Er fuhr fort: „Das globale Menschenrechtssanktionssystem der EU versetzt diese in die Lage, gegen Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch in der Welt anzugehen. Es signalisiert die Entschlossenheit der EU, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Mit diesem System sendet die EU eine klare Botschaft: Es gibt einen Preis für schwere Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch. EI-Energie-Kommissarin Kadri Simson bekräftigte: „Wir werden den internationalen Druck auf Russland wegen der Menschenrechtsverletzungen ausüben und Einzelpersonen unterstützen, auch durch Prozessbeobachtung“ – Prozesse, die sie als „politisch motiviert“ bezeichnete. Sie betonte: „Der Tod von Herrn Nawalny verpflichtet uns noch mehr dazu, diese Unterstützung fortzusetzen.“Alice Jill Edwards: Was die Nachfolgerin von Nils Melzer bei den UN sagtWie bei Nawalny haben auch die Vereinten Nationen viel über die Behandlung von Assange zu sagen gehabt. Im Dezember 2015 entschied die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung (UNWGAD) zu Gunsten von Assange und gegen Schweden wie das Vereinigte Königreich und forderte, dass seine andauernde „Inhaftierung beendet werden sollte und dass Herrn Assange das Recht auf Entschädigung gewährt werden sollte“. Nach dieser Entscheidung schrieb der ranghohe Diplomat Julian Braithwaite, dass Großbritannien „überrascht und enttäuscht von dem Ergebnis“ sei, und hielt sich dann nicht im Geringsten an seine Entscheidung. Im letzten Monat haben zwei neue Sonderberichterstatterinnen der Vereinten Nationen, Alice Jill Edwards und Irene Khan, „die britischen Behörden aufgefordert, Assange nicht auszuliefern und die US-Regierung, die Anklage fallen zu lassen“. Edwards ist die Sonderberichterstatterin für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe; Khan ist die Sonderberichterstatterin für das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung. Ihre Schlussfolgerungen und Warnungen erinnern auf unheimliche Weise an die von Edwards' Vorgänger Nils Melzer, der von 2016 bis 2022 in derselben Funktion tätig war und das Buch Der Fall Julian Assange verfasst hat. Zu seiner eigenen Überraschung wurde Melzer schließlich zu einem der lautstärksten Befürworter dieses Mannes, den er einst nur als „zwielichtigen Hacker, der sich in einer Botschaft versteckt“, abgetan hatte.Leider war der Abgeordnete Dino Giarrusso der Einzige, der in dieser Debatte Ähnlichkeiten zwischen Nawalny und dem Fall Assange herstellte. Er drängte darauf, dass „Europa nicht wegschauen und nicht zulassen sollte, dass Demokratien einen Journalisten so behandeln, wie es Putin getan hat.“ Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Roberts Zīle, meldete sich zu Wort: „Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass es hier nicht um eine Debatte über andere Personen geht. Wir sprechen hier über Alexej Nawalny.“Wer keinen Liebling auf Grundlage seiner geopolitischen Interessen und oberflächlichen Verbundenheit hat, geht es hier im Prinzip um ein und dasselbe. Ein Kommentar zu einem jüngst veröffentlichten ZDF-Podcastgespräch mit Markus Lanz und Richard David Precht brachte es auf den Punkt: „Der Fall Assange ist Nawalny genau dann gleichzusetzen, wenn man die westlichen Demokratien USA und England Putins Russland gleichsetzt. Sollte man allerdings der Meinung sein, dass man an westliche Entscheidungen einen höheren moralischen Standard setzen sollte, ist der Fall Assange weitaus bedeutender.“Eingebetteter MedieninhaltKann die Öffentlichkeit von ihren eigenen Regierungen erwarten, dass sie sich für die Pressefreiheit oder die allgemeinen Menschenrechte auf der ganzen Welt einsetzen, wenn Vertreter nicht einmal die Rechte in ihrem eigenen Einflussbereich schützen? Wie Bundeskanzler Olaf Scholz in Sindelfingen sagte: „Die drohende Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren ist wie ein Tod auf Raten.“ Klarer denn je schwebt jetzt die Todesdrohung über Julian Assange – und über jedem Journalisten, der solche sensiblen Dokumente, die für das öffentliche Interesse relevant sind, erhält, liest oder veröffentlicht. Europäerinnen und Europäer mögen derzeit auf die letzten Stunden blicken, in denen sich die Fortsetzung dieser Verfolgung gen Abgrund stoppen lässt.
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