Das war einer dieser vermeintlich heißen Herbste: Leipzig, 2022
Foto: Thomas Victor/Agentur Focus
Ich kann die vielen „heißen Herbste“ schon gar nicht mehr zählen, die meine Partei Die Linke in den zurückliegenden Jahren angekündigt hat, um Menschen gegen Kahlschlag bei öffentlichen Dienstleistungen und Sozialabbau zu mobilisieren. Das waren dann selten mehr als lauwarme Lüftchen: Kampagnenbilder von Parteiständen in sozialen Medien oder Solidaritätsadressen zu turnusmäßigen Tarifkämpfen. Ich kann dieses Engagement nicht geringschätzen, oft genug stand ich selber an den Infoständen oder war bei Demonstrationen mit dabei. Aber wir haben uns nicht den notwendigen Raum und Abstand genommen, um zu reflektieren, warum die Hoffnungen und vollmundigen Ankündigungen sich immer wieder als illusorisch erwiesen habe
eder als illusorisch erwiesen haben.Erfolgreiche soziale Kämpfe unter Beteiligung der Linken wie die Berliner Initiative zur Enteignung des Immobilienkonzerns „Deutsche Wohnen“ sind die rare Ausnahme geblieben. Was blieb, waren oft nur trotzige Selbstbestätigung und -beschäftigung. Wir müssten die Realität wohl noch drastischer anklagen, damit die Massen sich zu Großdemonstrationen aufraffen? Anders kann ich mir die immer wieder gleichen Forderungen nach „more of the same“ und den schrillen Dauerton, die „Immerschlimmeritis“, in vielen linken Presse- und Internetstatements nicht erklären. Hart gesagt: Je kleiner die realpolitische Interventionsfähigkeit, desto dröhnender die martialischen Phrasen. Sie sind letztlich Ausdruck von Ohnmacht und nicht eingestandener Ratlosigkeit. Dann wird im schlimmsten K-Gruppen-Duktus appelliert, wir müssten „die lohnarbeitende Klasse“ stärker fokussieren, als „klassenbewusste sozialistische Kraft“ eine „Klassenperspektive“ einnehmen, zu „Klassenkompass“ und „Klassenorientierung“ zurückfinden, „die Klassenfrage ins Zentrum“ rücken, die Frage nach dem Gebrauchswert der Linken ausgehend „von der Lage der lohnarbeitenden Klasse“ stellen und „linksliberale und linkslibertäre Tendenzen“ zurückdrängen.Walter Benjamins WortSo viel Klasse war wirklich lange nicht in der Linken. Unterdessen wanderte das Momentum für die Mobilisierung von Unbehagen und Unzufriedenheit auf die rechte Seite des politischen Spektrums. Soziale Umbrüche und einander überlappende Krisen führten – unter der Begleitmusik objektiv zynischer liberaler Lobeshymnen auf individuelle „Eigenverantwortung“ – vielen Menschen in den zurückliegenden Jahren ihre Abhängigkeit und Verletzlichkeit in einer Gesellschaft vor Augen, die sie als undurchschaubar und komplex erfahren. (...) Im Wettstreit um die schlichte Bewirtschaftung von Wut hat die politische Rechte gegenüber der Linken bessere Karten. Nach dem berühmten Wort des Philosophen Walter Benjamin verhilft der Faschismus „den Massen zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht“. Auch heute bestärkt die autoritäre Rechte die für solche Haltungen anfälligen Menschen nur in ihrer „schiefgestellten“ Herrschaftskritik und befeuert den latenten „Extremismus der Mitte“ und autoritäre, postfaktische Positionen.Vor allem das Unbehagen in Teilen des „Kleinbürgertums“ war historisch immer wieder für Formen reaktionärer Krisenbearbeitung empfänglich. Aber auch die „Arbeiterklasse“ war politisch durchaus volatil. Sie stützte nicht nur linke Parteien und Bewegungen, sondern auch konservative, faschistische und nationalsozialistische Politiken. Für die Suche nach zeitgemäßer sozialistischer Politik und nach Antworten auf diese Entwicklungen hilft es uns nicht weiter, das Mantra des „Klassenstandpunkts“ zu bemühen. (...)Das heißt beileibe nicht, mit den Ideen der Aufklärung und dem Marx’schen Erbe zu brechen – im Gegenteil.Für Marx ist der Sozialismus diejenige Gesellschaft, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Die Aufgabe des Sozialismus beschrieb er mit „dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Für mich ist das bis heute der Kern des Sozialismus, sein Credo. Dennoch hält sich in der sozialistischen Linken unserer Gegenwart – weit über sektiererische, orthodoxe Kleingruppen hinaus – ein verhängnisvoller Grundbestand von kruden Vorstellungen, der das Denken verkleistert. Eine Reihe von Linken nimmt für sich in Anspruch, über eine Art besonderes höheres Wissen zu den Idealformen des menschlichen Zusammenlebens zu verfügen. Sie meinen deshalb auch, der Einsatz aller denkbaren Mittel sei legitim, um die „Morgenröte des Menschengeschlechts“ herbeizuführen. Darin mischt sich die Verachtung bürgerlicher Freiheitsrechte und eine geradezu fetischistische Fixierung auf die „Arbeiterklasse“. So heißt es dann, der Sozialismus sei nur durch einen grundlegenden Bruch mit allen bestehenden Verhältnissen zu verwirklichen und jede Anstrengung unterhalb dessen entweder „Opportunismus“ oder vergebliche Liebesmüh.Sozialistisches Denken und Handeln hat sich immer auch an moralischen Werten orientiert, die der Französischen Revolution entlehnt sind: „Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit“. Der erste Artikel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 lautet: „Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nur auf das gemeine Wohl gründen.“ Das ist ein großes Versprechen, das die bürgerliche Gesellschaft bis heute nicht eingelöst hat – und zu Bedingungen des Kapitalismus nicht einlösen kann. Linke Politik strebt danach, gesellschaftliche Strukturen zu überwinden, die Ungleichheit zwischen den Menschen produzieren und reproduzieren. Linke Politik unterscheidet sich exakt in dieser Frage von rechter Politik – Gleichheit ist die zentrale Scheidelinie. Linke Politik folgt einer horizontalen, egalitären, auch pluralistischen Vision von der Gesellschaft, rechte Politik geht von Homogenisierung (etwa in völkischen Ideologien) und von einer Ungleichwertigkeit der Menschen aus (nicht nur entlang sozialer Differenz und Klassengrenzen, sondern zum Beispiel auch mit rassistischen Konstruktionen ethnischer Über- und Unterlegenheiten).Franziskus sagtGleicher oder ungleicher Zugang zu individuellen Rechten, gleich oder ungleich verteilte Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, unabhängig oder abhängig von Einkommen, „Stand“, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. Das ist die Gretchenfrage.Doch zweifellos lautet die brennende Frage unserer Gegenwart: Wie halten wir es mit der Bedrohung unserer Existenz, mit der ökologischen Herausforderung? Dass alle Bemühungen, die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, hinter den nötigen Fortschritten zurückbleiben, zeigt die massiven Schwierigkeiten und Konflikte des Umsteuerns. Aber ohne erfolgreiche Anstrengungen, im Einklang mit den Kapazitäten unserer Erde zu produzieren und zu leben, sind Gleichheit und Demokratie im planetaren Maßstab nicht erreichbar. In den nächsten fünf bis zehn Jahren stehen Weichenstellungen an, die sich für Jahrhunderte auf unser Ökosystem auswirken werden.Aber wir verharren „in der Logik des Ausbesserns, des Flickens und des Zusammenheftens“, wie es Papst Franziskus ausdrückt, „während im Untergrund ein Prozess der Verschlechterung voranschreitet, den wir weiter fördern“. Die Lebensgrundlagen zu bewahren ist kein Luxus, sondern die Basis jedes linken Freiheitsversprechens. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das all diejenigen meiner Genoss*innen auch so sehen, die ständig warnen, wir dürften „nicht grüner als die Grünen“ werden.Bei vielen Demonstrationen der Klimabewegung sind zum Glück Linke mit auf den Straßen. Auch ich habe gerufen: „System change, not climate change.“ Es ist nicht falsch, auf die kapitalistische Reproduktion als Ursache des existenzbedrohenden Klimawandels hinzuweisen. Aber die eigentliche Herausforderung ist eine Antwort auf die Frage: Was folgt daraus? Wie sehen die Alternativen zum Produktivismus, zum Zwang ständigen Wachstums und zur Verwandlung von Ressourcen und Arbeit in Kapital aus, die jetzt ergriffen werden könnten? Müssten wir nicht, solange das vage bleibt, alles unterstützen, was uns in Richtung „Zurück in die planetaren Grenzen“ bringt – und sei es auch unzureichend? Es liegt nicht allein daran, dass wir den Kapitalismus noch nicht überwunden haben, dass derzeit nicht alles unternommen wird, was möglich wäre. Es liegt auch daran, dass die Vorstellungen einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus bisher auf dem gleichen fossilen Paradigma wie der Kapitalismus beruht haben (und zu oft bis heute noch beruhen). Wenn sich Linke davon nicht gedanklich lösen, sind sie eher Teil des Problems als der Lösung. Ein Beispiel dafür war die hysterische Debatte um das Gebäudeenergie-Gesetz im Frühjahr 2023. So richtig vehemente Kritik am fehlenden sozialen Ausgleich bei der Energiewende ist, so falsch war es, dass sich Die Linke am Grünen-Bashing beteiligt hat. Unter dem Strich blieb das Bild, die Linken hielten – gemeinsam mit fossiler Konzernlobby, Ultraliberalen, Konservativen und Rechtsaußen – den Umbau des Systems unserer Wärmeversorgung für völlig unnötig.Es wird nicht reichen, sich auf markige Kritik an den jeweils Handelnden zu beschränken. Eine Linke muss die Frage nach dem guten Leben für alle Menschen stellen. Sie steht dafür, dass die Verhältnisse veränderbar sind. Sie motiviert und mobilisiert mit konkreten Ideen und Vorschlägen dazu, sie zu verändern. Raus aus der Depression, hin zu positiv-pragmatischer Politik!
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