Die Ungeheuer von Langeneß: Wie sich die Halligen vor dem Meeresspiegelanstieg retten
Reportage Weil seit 1980 der Nordseepegel deutlich schneller steigt, könnten die winzigen Halligen in den Fluten versinken. Unser Reporter eilte den Nordfriesen zur Hilfe und wollte über die Untergangsgefahr berichten – doch das ging gründlich schief
Mein Magen knurrt. Eigentlich bin ich an diesen verlassenen Flecken Erde gekommen, um zu recherchieren, ob die Halligen vor dem steigenden Meeresspiegel gerettet werden können. Aber jetzt habe ich ein größeres Problem: Der letzte Laden hat 2013 zugemacht und ich habe nichts zu essen! Heute Morgen kam der Besitzer des einzigen geöffneten Hotels mit der typischen „Kurbel mal das Fenster runter!“-Geste auf mein Auto zugerannt, weil ich im Dunkeln auf seiner Wiese geparkt hatte. Dabei stand sein Wagen auf dem einzigen Parkplatz und es war stockduster. Laternen sind hier ja auch Fehlanzeige. „Sag doch was, Mensch!“, blaffte er mich an. Na ja, immerhin habe ich vorhin noch eine Henkersmahlzeit bei ihm bekommen.
Ich bin hier auf Langeneß, der gr
eß, der größten der zehn Halligen. „Insel“, so darf man Langeneß auf keinen Fall nennen. „Wieder zehn Minuspunkte“, schleudern einem die Bewohner dann entgegen. Der Unterschied ist zugegebenermaßen wichtig: Halligen unterscheiden sich von Inseln dadurch, dass sie nicht durch große Deiche geschützt sind. Das nahe gelegene Pellworm liegt im Schnitt einen Meter unter Normalnull, aber ein 25 Kilometer langer und acht Meter hoher Wall sorgt dafür, dass alles trocken bleibt. Auf den Halligen heißt es hingegen mindestens ein Dutzend Mal im Jahr „Land unter“. Dann gucken nur die Warften aus dem Wasser: So nennen sie die Hügel, auf denen ihre Häuser stehen. Der Rest wird überschwemmt. Dem Selbstbewusstsein scheint es aber nicht zu schaden, an so einem rauen Ort zu leben.Honke Johannsen lässt seinen Blick über die Hallig streifen. „Ich habe Sie beobachtet, seitdem Sie losgefahren sind“, sagt der 52-Jährige. „Sie sind zweimal falsch abgebogen.“ Hat er nicht unrecht, ich bin wirklich spät dran. Johannsen ist hier einer von sieben Küstenschutzmitarbeitern. Er trägt einen Rollkragenpullover, darüber einen Blaumann, aus dessen Brusttasche sein Handy und ein Kugelschreiber herausgucken. Seine Fingernägel sind von der unteren Seite bräunlich gefärbt. Johannsens Alltag ist es, den kleinen Sommerdeich und die Uferschutzanlagen instand zu halten. Doch zuletzt stand ein größeres Projekt an.1980 kam die Wende: Der Nordseepegel bei Husum steigt schneller, als die Halligen an Höhe gewinnenDie „Klimawarft Treuberg“, auf der er steht, sticht mit einer Höhe von 5,90 Meter wie ein kleiner Berg aus den umherliegenden Salzwiesen hervor. Es ist der erste Versuch auf Langeneß, dem näher kommenden Wasser zu trotzen. Johannsen erzählt, dass der Hügel vorher niedriger war: 3,94 Meter über dem Meeresspiegel. Ein runtergerocktes Haus habe darauf gestanden. Das wurde abgerissen und die Anhöhe mit mehr als 100.000 Tonnen Sand aufgeschüttet. „Baut da was Zukunftsträchtiges hin“, hätte die Landesregierung in Kiel gesagt. „Etwas für die nächsten hundert Jahre!“ Johannsen fuhr Materialien hin und her und fungierte als Ansprechpartner für die Bauunternehmen.Bis vor vierzig Jahren sind die Halligen noch einigermaßen mit dem steigenden Nordseepegel mitgekommen. Indem bei jedem „Land unter“ Schlick auf die kleinen Inselchen getragen wird, gewinnen sie an Höhe. Doch seit 1980 wird der Abstand zwischen Meeresspiegelanstieg und Halligwachstum größer: Während der durchschnittliche Wasserstand rund um Husum zwischen 1980 und 2010 um 14 Zentimeter gestiegen ist, hinkt Langeneß mit 7,5 Zentimetern hinterher. Das kleinere Hooge hat in diesem Zeitraum sogar noch langsamer an Höhe gewonnen. Auf Dauer heißt das: Bye-bye, Halligen.Der Weltklimarat rechnet bis Ende des Jahrhunderts mit einem Meeresspiegelanstieg von bis zu einem Meter. Die nächste Generation wird schon noch an diesen abgelegenen Orten im Wattenmeer leben können. Die übernächste wahrscheinlich auch. Aber dann? Schon heute kommt das Wasser bei „Land unter“ nah an die Häuser heran. Im Falle einer Sturmflut, wie sie 1962 den Norden traf, können sich die Menschen mittlerweile in einen der 102 Schutzräume retten, die es auf allen Halligen zusammengerechnet gibt. Das sind Zimmer in Obergeschossen, die auf Pfählen aus Stahlbeton stehen und dickere Wände haben.Nicht einmal die Küstenschützer können schwimmen auf Langeneß: Wo bin ich hier gelandet?„Das Meer kommt näher“, merkt auch Johannsen. Noch hege ich die romantische Vorstellung, dass sich hier im Sommer die Älteren in der See tummeln und das Wasser genießen. Doch der Küstenschützer erklärt, dass er nie schwimmen gelernt hat: „Das können viele der Alteingesessenen nicht.“ Schwimmunterricht ist nicht Teil des Lehrplans der hiesigen Schule. In der sitzen drei Kinder im selben Klassenraum und lernen mit einer einzigen Lehrerin bis zur neunten Klasse. Vor ein paar Jahren gab es noch 19 Schüler. Aber deren Eltern zogen aufs Festland. Verübeln kann ich es ihnen nicht.Eine Naturschützerin erzählt mir von den strengen Regeln auf Langeneß. Der größte Fauxpas, den man sich leisten könne: unbefugt ein fremdes Grundstück betreten. Darauf würden die Halligbewohner sehr ungehalten reagieren. Ich erinnere mich an den Hotelier von heute Morgen. Auf der anderen Seite braucht man hier keine Schlüssel, alle Türen sind offen. So viel Vertrauen habe ich in meine Mitmenschen in Berlin nicht. Luisa Rieth, 27, will die Halligbewohner jedenfalls nicht im Stich lassen.Die studierte Hydrologin sitzt in einer kleinen, holzgetäfelten Eisenbahn. Mit der transportiert der Landesbetrieb für Küstenschutz und Nationalparks (LKN) seine Arbeitsmaterialien rüber nach Langeneß: Steine, Äste und Drähte. Die Schienen verlaufen über den sogenannten Lorendamm. Mit 15 Kilometern pro Stunde tuckert Rieth darüber. Am Lorendamm kann man das mit dem Meeresspiegelanstieg gut ablesen: 1927 wurde er auf einer Höhe von eineinhalb Metern gebaut, deswegen versanken die Gleise oft im Meer. 2014 musste die gesamte Strecke 60 Zentimeter erhöht werden. Jetzt ragen die Schienen weit genug aus dem Wasser, um den Fluten zu trotzen.Das Eco-Hal-Projekt der EU will die Halligen sogar dauerhaft erhalten. Es läuft seit Oktober und denkt über „ökobasierte Lösungen“ für Langeneß und Co. nach. Luisa Rieth wurde dafür vom LKN eingestellt. Es müsse verhindert werden, sagt sie, dass das Halligland langsam vom Meer aufgefressen wird. Eine Möglichkeit: Muschelbänke im Watt anlegen. „Das muss man sich wie ein Korallenriff vorstellen“, erklärt Rieth. Eine Vielzahl von Miesmuscheln und Austern, die gezielt vor den Halligen verstreut werden, könnte die Strömung des Meeres verlangsamen. „Im Idealfall wird dadurch die Erosion verringert.“ Die Niederlande hätten mit Miesmuschelbänken gute Erfahrungen gemacht. Auch dort bröckeln die Küsten ab.Nächtliche Jagd nach RattenWährend sich im Rest von Schleswig-Holstein die Schafe auf dem Grünen tummeln, sieht man auf Langeneß kein einziges Tier auf den Feldern. Die Kühe stehen von Oktober bis Mai im Stall. Dafür gibt es Ratten und Füchse: Die kommen in Scharen über den Lorendamm gelaufen. Naturschützer ziehen bei Dunkelheit mit Nachtsichtgeräten über die Hallig, um ihre Anzahl zu erfassen. Über eine einspurige Straße brettern die knapp 100 Bewohner mit ihren Autos; meist mit 80 Sachen und mehr. Wegen der salzigen Seeluft sind die meisten Pkws aber nach zehn Jahren verrostet.Küstenschützer Honke Johannsen hat trotz aller Widrigkeiten sein Leben hier verbracht. Es ist der Ort, an dem sein Sohn in dieselbe Schule geht wie er früher. Manchmal hadere der 15-Jährige damit, dass seine einzigen zwei Mitschülerinnen acht und elf Jahre alt sind und nie mit ihm Fußball spielen. Trotzdem, die Familie Johannsen gehört hierher. Seit 18 Jahren sitzt Vater Honke in der Gemeindevertretung. Als er von 1987 bis 1991 eine Lehre zum Schlosser in Husum gemacht hat, kam er jedes Wochenende zurück nach Hause, nach Langeneß. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr war das nicht anders. „Mich kriegt keiner dazu, in die Stadt zu ziehen“, sagt er. Und vielleicht muss er das auch gar nicht?Schleswig-Holstein hat sich dazu verpflichtet, für den Schutz der Halligen zu sorgen. „Pilotwarften“ wie Treuberg werden als Erstes fit für den Klimawandel gemacht. Die Landesregierung hat dafür 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Bis 2026 sollen sie fertiggestellt sein. Nach und nach sollen dann alle anderen nachziehen: Das LKN hat eine Liste, darauf sind die 39 Warften, wie es sie auf allen Halligen zusammengenommen gibt, mit einem Ampelsystem versehen. „Grün“ heißt, dass sie schon gewappnet sind für den steigenden Meeresspiegel. Konkret: Sie sind hoch oder weitläufig genug, dass auch im Falle eines Jahrhunderthochwassers das Wasser maximal 50 Zentimeter über der Türschwelle stünde. Dann gelten sie als klimawandelresistent. Bisher haben nur zehn Warften den grünen Status.Auch Treuberg ist noch eine Baustelle. Schläuche schlängeln sich über den matschigen Boden, in der Mitte sind Parkbänke ineinander gestapelt. Hier soll also das neue, zukunftssichere Zentrum von Langeneß entstehen. Mit einer Krankenstation, Wohnhäusern, zwei Bauhöfen und, endlich wieder, einem eigenen Einkaufsladen. Als ich hungrig am Hafen stehe und auf das Schiff warte, weht über meinem Kopf die Fahne der Nordfriesen. Darauf ihr Motto: „Lieber tot als Sklave.“
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