Nicole Seifert über die Gruppe 47: „Sie ist ein wirkmächtiger Mythos“
Interview Die Literaturkritikerin Nicole Seifert fragte sich, wo eigentlich die Frauen der Gruppe 47 waren. Sie stieß bei den Recherchen für ihr Buch „Einige Herren sagten etwas dazu“ auf Erstaunliches und Erschreckendes
Inge Jens, Ingrid Bachér und Ilse Aichinger 1962 beim Treffen der Gruppe 47 in Berlin
Foto: Dinge Meller Marcovicz/BPK
Mit Sexismus im Literaturbetrieb kennt sich die feministische Autorin Nicole Seifert bestens aus. Doch was sie bei den Recherchen für ihr neues Buch über die heute kaum noch bekannten Frauen der Gruppe 47 herausfand, verschlug auch ihr den Atem.
der Freitag: Frau Seifert, die Gruppe 47 hat, vielleicht etwas überspitzt gesagt, in der deutschen Literatur einen ähnlichen Stellenwert wie sonst vielleicht nur noch Goethe. Was hat Sie als feministische Literaturkritikerin daran gereizt, sich an einem so stark kanonisierten, männerdominierten Koloss abzuarbeiten?
Eigentlich genau das. Die Gruppe 47 hat heute klar etwas Angestaubtes, aber sie ist eben immer noch ein wirkmächtiger Mythos. Denn tendenziell ist man nach wie vor sehr stolz auf all die damit verbundenen gro&
ll ist man nach wie vor sehr stolz auf all die damit verbundenen großen Literaten wie Günter Grass, Martin Walser oder Heinrich Böll, die der Gruppeninitiator Hans Werner Richter zwischen 1947 und 1967 zu den jährlichen Treffen eingeladen hat. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg gab es auf der Ebene der Literatur auf einmal dieses Gefühl des „Wir sind wieder wer!“ – wie auch beim Sieg der Fußball-WM 1958. Nur die Frauen, die spielen in dieser Geschichte eigentlich kaum eine Rolle. Mein Anfangsverdacht war, dass sie nicht deshalb nicht vorkommen, weil es sie nicht gab, und auch nicht, weil ihre Beiträge nicht gut genug oder nicht spannend genug waren. Sondern weil die bekannten Ausschlusskriterien gegriffen haben, über die ich schon in meinem ersten Buch Frauen Literatur geschrieben habe. Während meiner Recherchen hat sich dieser Verdacht rasend schnell erhärtet – und ich habe unglaublich tolle Entdeckungen gemacht.Sogar Sie als Spezialistin für Literatur von Frauen kannten gar nicht alle dieser 17 mit der Gruppe 47 verbundenen Autorinnen, die Sie in Ihrem Buch vorstellen?Ich kannte nicht einmal die Hälfte der Namen, Texte gelesen hatte ich vorher von ungefähr einem Drittel. Ich hatte gehört von Gabriele Wohmann, Gisela Elsner und natürlich den weiblichen „Stars“ der Gruppe, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger. Bachmann wird zwar bis heute immer wieder im Gruppenzusammenhang erwähnt, aber sie hat klar eine Alibi-Funktion – sie ist die „eine“, die Schlumpfine. Gerade von den Lyrikerinnen und von den sehr kritischen Stimmen sind heute viele vergessen. Vor allem solche, die sich nicht an die extrem virile Ästhetik der Gruppe 47 gehalten haben. Einer Gruppe, die bekanntlich in erster Linie aus Kriegsheimkehrern bestand und eine „Kahlschlag-Literatur“ propagierte, eine Stunde null – wohl auch, um sich nicht zu sehr mit dem eigenen Tun im Krieg auseinandersetzen zu müssen. Die Autorinnen, die eher aus dem Surrealismus kamen und mit dem Unbewussten gearbeitet haben, die an die Zeit vor dem Nationalsozialismus, an die literarische Moderne angeknüpft haben, drangen damit überhaupt nicht durch, obwohl es aus heutiger Sicht die viel interessantere Literatur ist.Im Wikipedia-Eintrag zur Gruppe 47 kommt das Wort „Frau“ nur in Bezug auf die Ehefrauen der Autoren vor, die als Dekor stets mit eingeladen wurden. Gabriele Wohmanns Ehemann hingegen, das berichten Sie, durfte explizit nicht mit anreisen.Was aus 20 Jahren Gruppentreffen geblieben ist, in den Quellen, sind die Frauen als Körper. Sie waren diejenigen, mit denen man Spaß hat, wenn es dann nicht mehr um Literatur geht. Die sich um Bewirtung und Wohlergehen kümmern. Die Frauen, die als Autorinnen da waren, die mit ihren Texten gehört und ernst genommen werden wollten, hatten das Nachsehen.Wie schwierig war die Recherche?Ganz unterschiedlich. Mit den drei noch lebenden Autorinnen Elisabeth Plessen, Barbara Frischmuth und Ingrid Bachér konnte ich sogar persönlich sprechen. Gabriele Wohmann war in der Mitte ihres Lebens über lange Zeit sehr erfolgreich und hat Preise erhalten, wurde an Unis und Schulen gelehrt und eingeladen, da ist viel dokumentiert. Bei anderen, wie zum Beispiel der Lyrikerin Griseldis Fleming, die sich nach dem Totalverriss durch die Gruppe in einem Brief an Richter zutiefst deprimiert als „Lyrikleiche“ bezeichnete, findet man fast nichts. Ich konnte nicht einmal herausfinden, ob sie noch lebt! Von einigen, wie von Ilse Schneider-Lengyel, sind ganze Lyrikbände verschollen und vermutlich für immer verloren. Das ist dramatisch. Vor allem, wenn man bedenkt, wie zum Beispiel ein Martin Walser gefeiert wurde und wird, und diese spannenden Sachen sind nicht einmal archiviert!Sie haben schier unglaubliche Vorfälle zusammengetragen: Männliche Autoren legten sich heimlich in die Betten junger Autorinnen, um sie zu „erobern“, Ingeborg Drewitz hätte ihre Kinder ins Heim geben müssen, um an dem Treffen teilzunehmen, weil weder ihr Mann noch ihre Verwandten sich um sie kümmern wollten, Bachmann und Aichinger wurden statt zu einer Party in ein Bordell in Hamburg mitgenommen … Waren Sie auf diese Funde vorbereitet?Wenn man wie ich in den 1970er Jahren geboren wurde, hat man die selbstverständlichen Sexismen der betreffenden Generation ja noch zur Genüge miterlebt. Diese Heftigkeit und dieses Ausmaß haben mich dann aber doch umgehauen, obwohl ich schon seit Jahren zu diesen Themen arbeite. Die Frauen sind ja bei den Treffen auch kaum zu Wort gekommen. Ihre Texte wurden so gut wie nicht diskutiert und oft wohl auch nicht kapiert, sie wurden schlicht nicht ernst genommen. Völlig zu Unrecht natürlich.„Eine stärkere Beteiligung von Frauen war in der Gruppe offensichtlich nicht gewollt, auch später nicht, als durchaus demokratischere Verhältnisse gefordert wurden und beispielsweise Martin Walser die Gruppe ‚sozialisieren‘ wollte“Es ging ja nicht nur um sexistische Ausschlüsse, sondern auch um elitäres Verhalten: Auf einer Tagung in Aschaffenburg hat Hans Werner Richter höchstpersönlich Leute aus dem Publikum aussortiert, die er nicht eingeladen hatte. Hätten Frauen das anders gemacht?Die Gruppe 47 war von Anfang an eine total patriarchale Veranstaltung mit Richter an der Spitze. Seine Haltung war: „Ich lade ein, ich entscheide, wer mit dabei ist“, und da ist es natürlich eine logische Folge, zu sagen: „Ihr gehört nicht dazu.“ Ich denke, dass diese sehr elitistischen und hierarchischen Vorstellungen auch noch mit der NS-Sozialisation zu tun hatten, wie sehr man sich auch davon abgrenzen wollte. Eine stärkere Beteiligung von Frauen war in der Gruppe offensichtlich nicht gewollt, auch später nicht, als durchaus demokratischere Verhältnisse gefordert wurden und beispielsweise Martin Walser die Gruppe „sozialisieren“ wollte.Exilautor*innen waren in der Gruppe kaum erwünscht, mitunter gab es auch den grotesken Vorwurf, sie hätten sich der Situation in Nazideutschland entzogen. Sie verweisen auf die berüchtigte Geschichte, wie Paul Celan 1952 in Niendorf kritisiert wurde, er habe seine „Todesfuge“ im Stil von Goebbels vorgetragen, pathetisch und in einem Singsang – ist dieser latente Antisemitismus nicht auch direkt mit Misogynie verbunden, mit einem Ekel vor allem Weiblichen, Weichen?Ein interessanter Gedanke, ja, das leuchtet mir total ein. Bis Celan 1952 vor der Gruppe las, wurden von den Autoren markige, männliche Erfahrungen im Stil von Ernest Hemingway favorisiert, Einzelgängertum und Kargheit. Als Celan las, waren gerade kurz die Frauen wichtig, Bachmann und Aichinger, die beide auch den Preis der Gruppe, aber auch viel Häme abbekommen haben. Da war viel überspielte Angst vor dem Weiblichen, das zeige ich im Buch genauer. Und die Frauen gerieten dann auch wieder total ins Abseits, zugunsten von Günter Grass, dem neuen Star der Gruppe von dem Moment an, als er 1958 aus der Blechtrommel las.Der Ruhm der Frauen, der bis heute anhält, ist eher zwiespältiger Natur, finden Sie?Ja, denn das, was bei den Autorinnen überlebt, sind Legenden um ihre Erscheinung und ihr angeblich divenhaftes Verhalten – und eben nicht ihr Werk. Bachmann ist mit Blick auf das Werk wie gesagt die eine Ausnahme. Aber auch für sie gilt: Die Frauen wurden als Körper und Objekt des Begehrens wahrgenommen, und es ging dann nur noch darum. Das hat aber auch noch eine andere, viel perfidere Funktion als der offensichtliche Sexismus: Man musste sich dann gar nicht erst mit ihrem Werk auseinandersetzen. Denn das, was die Autorinnen geschrieben haben, hatte eine so große gesellschaftskritische Wucht in einer Zeit, in der faschistische Denkmuster noch allgegenwärtig waren, dass es zum Verstummen gebracht werden musste. Das Ausmaß der Häme diente dazu, dass diese Texte zu Gewalt und Verdrängung auf keinen Fall ernst genommen wurden.„Ein Zusammenschluss wie die Gruppe 47, die letztlich an ihrem eigenen Distinktionsgehabe und ihrem Elitismus zugrunde gegangen ist, ist heute wirklich ein schlechtes Vorbild“Immer wieder zeigen Sie die Häme, die Verachtung, mit denen diesen Frauen begegnet wurde: zu Lebzeiten, wenn sie nicht beachtet oder ausgelacht wurden, aber auch in erschreckend abwertenden Nachrufen, die sich besonders gern an Abstiegsgeschichten verrückt gewordener oder verarmt gestorbener Schriftstellerinnen weiden.Interessant daran ist, dass die Autorinnen, die diese Häme nicht erfahren haben, in der Regel auch keinen großen Erfolg hatten. Sie waren dabei, hatten Achtungserfolge, wurden geduldet. Der Umgang mit den „bedrohlichen“ Schriftstellerinnen kippte immer wieder zwischen Verachtung und Überhöhung. Die Quellen zeigen eine derart omnipräsente Überheblichkeit der Männer, dass man wirklich sagen kann: Sie waren überzeugt, sie könnten es besser. Die Erfahrungen, von denen die Frauen schrieben, konnten oder wollten die Männer offenbar oft nicht verstehen, weil sie sie nicht teilten und sie reflexhaft als irrelevant abtaten. Außerdem war es schlichtweg so – auch wenn das vielen provokant erscheinen mag –, dass die Männer mindestens zu Beginn der Gruppentreffen noch einen geringeren literarischen Sachverstand hatten. Was auch kein Wunder ist, denn während sie im Krieg waren, studierten und promovierten viele der Frauen.Wünschen Sie sich trotz aller Kritik nicht doch manchmal eine Zeit zurück, in der Literatur so ein Ereignis war wie die Treffen der Gruppe 47, die ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Schweden und den USA stattfanden?Man muss sehen, dass diese Tagungen damals das Einzige waren, was im deutschen Literaturbetrieb nach dem Krieg stattfand – am Anfang gab es ja nicht einmal ein funktionierendes Feuilleton. Heute existiert eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich über sein literarisches Schaffen auszutauschen, an Wettbewerben teilzunehmen, Stipendien zu erhalten, sich zu treffen. Und auch wenn der vom Gruppe-47-Mitglied Marcel Reich-Ranicki geschaffene Bachmann-Wettbewerb auf deren hierarchisches Vorlese-Prinzip zurückgeht, wo die Lesenden auf dem „elektrischen Stuhl“ neben Richter Platz nahmen und sich nicht zur Diskussion äußern durften, finde ich es doch bemerkenswert, dass im 21. Jahrhundert eine solche Veranstaltung im TV übertragen wird. Aus meiner Sicht kann es gar nicht genug Aufmerksamkeit für Literatur geben. Aber ein Zusammenschluss wie die Gruppe 47, die letztlich an ihrem eigenen Distinktionsgehabe und ihrem Elitismus zugrunde gegangen ist, ist heute wirklich ein schlechtes Vorbild.Placeholder infobox-1
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