Psychotherapie Large Language Models, ChatGPT & Co.: Manche Psychotherapeuten fürchten, künstliche Intelligenz könne bald ihre Arbeit ersetzen. Sie sollten ihren eigenen Rat befolgen: die Angst direkt zu konfrontieren. Wie wahrscheinlich ist das Szenario?
Künstliche Intelligenz kann tausende Seiten Therapieanweisungen, Forschungspapiere und klinische Fallstudien schneller verarbeiten als jeder Mensch mit Doktortitel – wer deshalb aber die Möglichkeit einer auf jeden Menschen individuell zugeschnittenen Psychotherapie wittert, weiß nicht wirklich, wie Psychotherapie funktioniert.
Foto: Imago/Science Photo Library
Gerade war der Jahrestag der Veröffentlichung von ChatGPT, dem Chatbot von OpenAI. Während sich nun die Unternehmen beeilen, diese bahnbrechende Technologie für sich zu nutzen, sorgen sich viele Arbeitnehmer, sie könnten durch generative Künstliche Intelligenz – die meist auf großen Sprachmodellen (LLM, large language models) beruht – ihre Jobs verlieren. Ironischerweise wird diese Angst von Experten geteilt, die dazu ausgebildet sind, mit ihr umzugehen: Therapeuten.
Sicherlich werden Modelle generativer KI, von denen ChatGPT, Googles Bard oder Metas LLaMA nur die Spitze des Eisbergs sind, die Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen, auf den Kopf stellen. Accenture schätzt, dass in den Vereinigten Staaten 62 Prozent der gesamten Arbeitsstunden f&
großen Sprachmodellen (LLM, large language models) beruht – ihre Jobs verlieren. Ironischerweise wird diese Angst von Experten geteilt, die dazu ausgebildet sind, mit ihr umzugehen: Therapeuten.Sicherlich werden Modelle generativer KI, von denen ChatGPT, Googles Bard oder Metas LLaMA nur die Spitze des Eisbergs sind, die Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen, auf den Kopf stellen. Accenture schätzt, dass in den Vereinigten Staaten 62 Prozent der gesamten Arbeitsstunden für Sprachaufgaben verwendet werden und dass wahrscheinlich 65 Prozent dieser Aufgaben durch LLM automatisiert oder verbessert werden könnten. Und in diesem Jahr hat das US-Nationalbüro für Wirtschaftsforschung eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Produktivität von Kundendienstmitarbeitern durch generative KI-basierte Konversationsassistenten durchschnittlich um 14 Prozent gesteigert werden kann.Wachsender Bedarf an Therapie nach CoronaAuch die globalen Gesundheitssysteme könnten ihre Produktivität verbessern, da viele von ihnen unter schlecht finanzierten Präventionsprogrammen, überarbeiteten Angestellten und steigenden Kosten für chronische Krankheiten leiden. Dies ist insbesondere auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit der Fall, wo die wachsende Nachfrage im Zuge der Pandemie kaum bedient werden kann: Laut einem Bericht der OECD von 2021 hatten 67 Prozent der Menschen Schwierigkeiten, die benötigte psychische Unterstützung zu bekommen. Darüber hinaus kamen die US-Zentren für Seuchenkontrolle und -vorbeugung zu dem Ergebnis, dass 2022 jeder achte Amerikaner regelmäßig unter Gefühlen der Sorge, Nervosität oder Angst litt, und sich fast die Hälfte der US-Gesundheitsmitarbeiter oft ausgebrannt fühlte.Wird generative KI also den Sektor der psychischen Gesundheit revolutionieren, indem sie die therapeutische Arbeitsbelastung verringert oder menschliche Therapeuten gar völlig verdrängt? Können uns LLM wie ChatGPT oder Bard genauso gut „behandeln“?Sprache und Kommunikation, die Werkzeuge der TherapieDa Sprache und Kommunikation die hauptsächlichen Werkzeuge der Psychotherapie sind, könnte man annehmen, dass die Behandlungen durch generative KI leicht automatisiert werden können. Da diese Modelle tausende Seiten Therapieanweisungen, Forschungspapiere und klinische Fallstudien schneller verarbeiten können als jeder Mensch mit Doktortitel, wäre es denkbar, diesen Wissensschatz dazu zu verwenden, jedem Menschen eine genau auf ihn zugeschnittene Psychotherapie anzubieten.Aber diese Hoffnung (oder Angst) ignoriert die Art, wie Psychotherapie funktioniert und was sie effektiv macht: Forschungen zeigen, dass der Erfolg der Behandlungen hauptsächlich von zwei Elementen abhängt: „spezifischen“ und „allgemeinen“ Faktoren. Spezifische Faktoren sind Techniken wie Entspannungsübungen und Konfrontationen, die von Psychotherapeuten bewusst eingesetzt werden. Beispielsweise kann eine Person zwar stundenlang über ihre Angst vor Spinnen sprechen, aber um diese wirklich zu überwinden, muss sie sich nach und nach mit echten Spinnen konfrontieren.Vertrauen zwischen Patient und TherapeutAber der Schlüssel zu einer effektiven Psychotherapie liegt in allgemeinen Faktoren. Zu diesen gehören grundlegende menschliche Eigenschaften wie Empathie oder Hoffnung. Außerdem umfassen sie die Handlungen – Zuhören und die Mitteilung von Emotionen und Gedanken –, die die Grundlage für menschliche Verbindungen bilden und entscheidend dazu beitragen, zwischen Patient und Therapeut ein Vertrauensverhältnis herzustellen, ohne das die Psychotherapie zum Scheitern verurteilt ist. Darüber hinaus können sich die beiden Parteien nur im Rahmen einer solchen Beziehung auf Erwartungen und Ziele einigen – einen weiteren wichtigen gemeinsamen Faktor.Zur Erklärung dessen, warum Psychotherapie in einem Fall funktioniert und in einem anderen vielleicht nicht, können letztlich beide Kategorien beitragen: Ein distanzierter und kühler Experte, der die richtige Technik wählt, wird keinen Erfolg haben – ebenso wenig wie ein Therapeut, der zwar freundlich und motiviert ist, aber Themen anspricht, die für den Patienten nicht relevant sind.Als zertifizierter Psychotherapeut, der regelmäßig Patienten behandelt, glaube ich nicht, dass unser Beruf durch generative KI automatisiert werden kann. Psychotherapie ist eine zutiefst menschliche Interaktion, bei der sich zwei Menschen begegnen, um einen von ihnen von seinen persönlichen Leiden zu befreien. Trotz der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der LLM mithilfe natürlicher Sprache Texte verarbeiten können, werden sie so bald keine solchen Verbindungen zu Menschen schaffen, wie wir sie untereinander genießen.Darüber hinaus bietet Psychotherapie einen sicheren Raum, der durch professionelle Vertraulichkeit geschützt ist, und in dem über Gefühle, Verletzlichkeiten und Gedanken gesprochen werden kann, die für uns zu peinlich oder schambesetzt sind, um sie mit einer anderen Person zu teilen. Was im Therapiezimmer besprochen wird, bleibt auch dort. Die Idee, dass wir uns wohl dabei fühlen könnten, invasive Gedanken, Zwangsvorstellungen oder heikle Informationen mit einem System zu teilen, das jede Information dazu verwenden kann, seine Ergebnisse zu verbessern, ist sehr weit hergeholt. Selbst wenn diese Daten anonymisiert werden, müssten die Patienten immer noch massenhaft heikle Gesundheitsinformationen mit privaten Unternehmen teilen, was grundlegend anders ist als eine private Sitzung mit einem einzelnen Therapeuten.Ein KI-gestütztes SelbstüberweisungssystemGenerative KI könnte die Arbeit von Therapeuten allerdings unterstützen, indem sie die Bestimmung der passendsten Techniken für jeden Patienten erleichtert. Genauer gesagt, könnte sie in komplexen Fällen eine Auswahlliste personalisierter Interventionen vorschlagen und die Therapeuten so in die richtige Richtung lenken. Außerdem wäre ein KI-gestütztes Selbstüberweisungssystem denkbar, das den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verbessert – insbesondere für Minderheiten oder Menschen, die einfache Sprache benötigen. All diese Entwicklungen würden die Therapie nicht ersetzen, sondern ihr helfen.Therapeuten müssen generative KI nicht fürchten, auch wenn sie als transformative Innovation angepriesen wird. Laut dem Weltwirtschaftsforum gehören Paar- und Familientherapeuten sowie Berater für psychische Gesundheit zu den Berufen, die mit der geringsten Wahrscheinlichkeit durch LLM verändert werden. Stattdessen müssen Therapeuten hinsichtlich ihrer Angst, durch Technologie ersetzt zu werden, ihren eigenen Rat befolgen: die Angst direkt zu konfrontieren. Dann würden sie sehen, dass KI nicht in der Lage ist, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu ersetzen, auf deren Grundlage die Psychotherapie aufgebaut ist.
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