Radiostars von A bis Z: Der Hörfunk wird 100 Jahre alt!
Jubiläum Musikhören als Lebensform: Je nachdem, wen oder was man hörte oder auf welchem Gerät – Stern-Radio ging in der DDR nicht ohne Nietenhose und Bildungspathos nervte schon Gottfried Benn. Von Anfängen und Videokillern. Unser Lexikon
„Video Killed the Radio Star“ sangen die Buggles – trotzdem ist das Radio bis heute da
Foto: Everett Collection/Imago Images
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wie Anfänge
Den Rundfunk erträumten sich linke Intellektuelle in der Weimarer Republik einmal als radikales demokratisches Medium, das ihre Ideen weitertragen sollte. „Hörbilder durch die Ohren sehen lassen“ lautete das Programm des heute fast vergessenen, bis zu seiner nationalbolschewistischen Wende eng mit Brecht befreundeten Dramatikers Arnolt Bronnen, eines visionären Technik-Freaks, der während der Olympiade 1936 auch das Fernsehen mitentwickelt hat. Montage und Simultaneität erprobte schon die zeitgenössische Literatur, doch das Radio forcierte eine Form der Entkörperlichung wie heutzutage nur noch einmal die Digitalkultur. Bronnens radikale Hörexperimente, die er ab 1926 in die BerlinerFunk-Stunde einspeiste, schöpften a
ste, schöpften aus dem Klassikerreservoir, doch seine Wallenstein-Trilogie ging in die Radiogeschichte ein. Der Radio-Roman Kampf im Äther von 1935, politisch kaum mehr goutierbar, ist ein Zeugnis für die Art, wie die Nazis den Rundfunk für sich dienstbar gemacht haben. Ulrike Baureithel Bwie BennGottfried Benn hat nicht nur viel im Radio gesprochen, sondern auch ein Gedicht mit dem Titel Radio verfasst. In diesem Gedicht vom Anfang der 1950er Jahre heißt es: „‚– die Wissenschaft als solche‘ – wenn ich Derartiges am Radio höre, bin ich immer ganz erschlagen.“ Wer nicht, möchte man meinen. Unweigerlich denkt man nicht an das Radio der 1950er, sondern an das Radio der Gegenwart. Hier wird dauernd von „Wissenschaft“ gesprochen. Im weiteren Verlauf des Gedichts spricht das lyrische Ich davon, dass wir es im Radio mit „pädagogischen Sentenzen“ zu tun hätten. Das sagen mittlerweile auch viele Kritiker des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (→ RBB-Kulturradio), manchmal berechtigt, aber öfter aus Ressentiment. Und Benn schreibt: „Sie lehren in Saus und Braus, sie lehren aus allen Poren und machen Kulturkreis draus.“ Markus SteinmayrKwie KofferheuleWenn ich einen jungen Menschen von heute mit Airpods im Ohr auf einem E-Scooter vorbeidüsen sehe, muss ich an mich als jungen Menschen denken. Ein Kofferradio Stern Party II vom VEB Stern-Radio Berlin in der mitgelieferten Ledertasche um den Hals gehängt, düse ich mit einem Moped namens „Star“ zum Badesee. Vorher die Rückseite abgeschraubt, zwei frische Flachbatterien eingelegt, zärtlich über die vielen Lötpunkte der Platine gestreichelt. Die Kofferheule in der Armbeuge gehörte, neben Nieten- oder Keilschlaghosen, schon lange zu den Insignien der Halbstarken und Gammler. Chillen (damals „Gammeln“) mit Musik. Erwachsene Passanten waren weniger gechillt. Das erste DDR-Transistorradio kam 1958 auf den Markt. In unseren Stern-Radios liefen aber nicht mehr Elvis oder die Yardbirds, sondern Led Zeppelin (→ Night Flight), die man inzwischen auch bei DT64 über Mittelwelle zu hören bekam. Für einen Stern R 160 mit UKW hätte man ein Monatsgehalt hinlegen müssen. Michael SuckowLwie LiveAls Kind habe ich öfter bei Kakadu angerufen, der Kindersendung vom Deutschlandradio. Wer bei einem Live-Hörspiel oder Quiz mitmachte, bekam zur Belohnung einen Plüschkakadu geschickt. Irgendwann hatte ich eine kleine Sammlung. Später wurde ein anderes Live-Format interessanter: die Samstagskonferenz der Fußball-Bundesliga. Woche für Woche fieberte ich als Fan von Mainz 05 mit, doch auch die anderen Spiele hörte ich leidenschaftlich gern. Der Vorteil von Radio-Fußball: Man kann gleichzeitig im Garten lümmeln, spazieren oder wandern gehen, kochen – oder selbst kicken. Und die Beschreibungen der Kommentatoren sind unterhaltsam, packend, schnell und atmosphärisch. Ein „Toooor“-Schrei aus einem Stadion unterbricht den Vortrag eines Journalisten. Wer hat das Tor gemacht? Im Radio erfahren Sie’s zuerst. Ben Mendelson Nwie Night FlightBei ihm hörte ich zum ersten Mal die Smiths und Billy Bragg. Wahrscheinlich in seiner Sendung Night Flight, die er seit 1975 für den britischen Soldatensender BFBS moderierte. Vielleicht war es aber auch ein Programm namens Lupenrock auf WDR 2. Mehr als 40 Jahre ist das her. Alan Bangs, 1951 in London geboren, war damals neben John Peel der interessanteste DJ, den man im West-Radio hören konnte (→ Kofferheule). Seine Plattenauswahl war individuell und eigenwillig. Mal spielte er nur Coverversionen eines Songs, mal stand ein bestimmtes Erscheinungsjahr im Mittelpunkt. Langweilig wurde es nie. Nicht immer gefiel das seinen Arbeitgebern. Als er in einer Sendung nacheinander Jacques Brel, ein Stück von Claude Debussy und die Einstürzenden Neubauten auflegte, war er seinen Job beim WDR los. Danach gab es Engagements bei anderen Sendern. Aber 2013 schloss sich seine letzte Nische im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Gegen die Playlists des Spartenradios hatte Alan Bangs keine Chance. Joachim FeldmannPwie ParocktikumLegendär war die Sendung Parocktikum von 1986 bis 1993 mit dem Moderator Lutz Schramm. Jeder mit Interesse an Indie-Musik wurde hier abgerufen. Schramm hat es mit dieser Sendung geschafft, den unzähligen alternativen Underground-Bands der DDR, die keine Spielberechtigung und keine Veröffentlichungen hatten, eine Plattform zu geben. Eingereicht wurden die Songs meist auf Demo-Kassetten. Das Intro zur Sendung mit dem Song Katjuscha von Hard Pop signalisierte dem Hörer, dass der Kassettenrekorder (→ Kofferheule) aufnahmebereit sein sollte. Lutz Schramm, der „John Peel des Ostens“, sagte später selbst über seine Sendung: „Für die einen war diese Sendung ein Versuch staatlicher Vereinnahmung, für die anderen eine Gelegenheit, sich über unangepasste Musik aus der DDR und dem Rest der Welt zu informieren.“ Marco Rüscher Rwie RBB-KulturradioWenn das Bewegtbild noch etwas von den Radiosternchen übrig gelassen hatte, dann hat das Smartphone ihnen endgültig den Rest gegeben. Ja, es hat heute auch etwas Nostalgisches, dass ich jahrelang meinen Lebensrhythmus an die Sendezeiten angepasst habe, nur um etwa ja keine Folge der Lesung im RBB-Kulturradio zu verpassen. Die halbstündigen Hörbuch-Episoden von Neuerscheinungen und Klassikern liefen täglich um 14 und noch mal um 23 Uhr – ich hörte sie immer. Und doch ist es heute natürlich viel praktischer, meine Audio-bücher, wann und wo ich will, auf dem Handy hören zu können. Auch hat die Demokratisierung der Produktionsmittel die alten Rundfunkbeamten durch neue Podcast-Stars ersetzt, sie füllen heute neben den Gehörgängen auch Stadien (→ The Buggles). Ja, auch das klassische Radio kann sein gesamtes Programm als Podcast produzieren, auch die Lesungen, nur machen das andere inzwischen oft besser. Trotzdem ist es damit auch das Radio selbst, das über Auf- und Untergang seines Sterns zumindest mitbestimmen kann. Tom WohlfarthSwie SatireKalk & Welk heißt ein satirischer Podcast, den Oliver Kalkofe und Oliver Welke seit einem Jahr ausstrahlen. Damit knüpfen sie an ihre legendäre Radiozeit an, die die beiden bekannt gemacht hat. Vor bald 30 Jahren waren sie als Sprecher in der Comedy-Show Frühstyxradio beim niedersächsischen Privatsender Radio ffn. Die beiden – einer aus Hannover, der andere aus Bielefeld – hatten sich zuvor beim Publizistik-Studium in Münster kennengelernt. Nun fanden sie im Äther ihre Spielwiese und kreierten Figuren wie Onkel Hotte und das Format Kalkofes Mattscheibe, das später ins Fernsehen wanderte. Fürs Radio schufen sie kurze Hörsketche, die auch auf CD erschienen. Später waren sie beide als Autoren von Edgar-Wallace-Parodien tätig. Nun kehrten sie als „fabelhafte Boomer Boys“ zu ihrer ersten Liebe (→ Zeller) zurück und feiern das Radio. Tobias PrüwerTwie The BugglesDas Debüt dieses britischen Pop-Duos wurde zu seinem größten internationalen Erfolg: Video Killed the Radio Star, 1977 von Trevor Horn, Geoff Downes und Bruce Woolley geschrieben. Die Single von Horn und Downes erschien am 7. September 1979. Wobei es 1978 bereits eine frühere Version von Bruce Woolley and The Camera Club gab und später zahlreiche Interpretationen durch andere Musiker. Nostalgische Erinnerung an Zeiten, als die Musik noch vornehmlich aus dem Radio kam, als Aussehenund Performance der Künstler noch kaum eine Rolle spielten. Doch der Siegeszug des Fernsehens (→ Satire) war längst im Gange. Ironischerweise wurde der Buggles-Song 1981 zum ersten Videoclip, der vom Musiksender MTV ausgestrahlt wurde. Da hatte sich die Gruppe bereits aufgelöst. Und als Queen dann mit dem Superhit Radio Ga Ga (1984) das Radio feierte und gleichzeitig von der Macht des Videos sang, da geschah das visuell eindrucksvoll mit Szenen aus Fritz Langs dystopischem Science-Fiction-Stummfilm Metropolis (1927). Irmtraud Gutschke Zwie ZellerSamstagabends standen wir NRW-Jugendlichen vor dem Badezimmerspiegel und hörten 1Live Moving, während wir uns für eine Party fertig machten. Moderiert wird die Sendung (bis heute) vom wasserstoffblonden DJ des Senders: Jan-Christian Zeller. Der spielt von 18 bis 22 Uhr Partymusik, zu der Feierwütige im „Sektor“ (so nennt 1Live sein Sendegebiet) vortrinken. Danach verlässt „JC“ das Radiostudio in Köln und legt selbst in den Clubs des Bundeslandes auf. Am liebsten möge er die Provinz, sagt der gebürtige Freckenhorster (das ist in der Nähe von Münster). Und so verschlug es Zeller eines Tages in meine Heimat, Mülheim an der Ruhr, wo er im „Nightstyle“ mainstreamige Musik aus den Boxen schallen ließ. Ich erinnere mich nur dunkel daran, was ich zu ihm sagte, als ich ihn betrunken ansprach. Ich fürchte, es war: Ich liebe dich. Dorian Baganz
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