100 Jahre Radio: Wer braucht noch piepsende Zeitzeichen?

Meinung Seine großen Zeiten hat der Hörfunk hinter sich. Es gab ihn im Krieg, Nachkrieg und Kalten Krieg. In einer Welt der Bilder hat das Medium schlechte Karten: Die nächsten hundert Jahre sind ungewiss
Ausgabe 43/2023
Radio: Ein Relikt längst vergangener Zeiten
Radio: Ein Relikt längst vergangener Zeiten

Foto: Picture Alliance/VisualEyze/United Archives/Heinz Pollmann

Schaltete man das Radio ein, musste der Apparat erst in Gang kommen, das dauerte. Dann leuchtete grün sein Auge auf, funkelte wie ein Smaragd, und die Stimmen kamen, kamen, wie es schien, von fern heran. Sie flogen durch eine Luft, die man in diesem Zusammenhang Äther nannte. Jemand sprach: „Es folgen die Wasserstandsmeldungen.“

Wie fast alle Medientechnik war auch Radio eine Erfindung fürs Militär. Es leistete seinen Dienst im Ersten Weltkrieg. Erst ab Oktober 1923 durften Zivilisten per „Unterhaltungsrundfunkdienst auf drahtlos-telefonischem Wege“ ein Programm senden. Kurz darauf stand in Berlin bereits das Haus der Funkindustrie. Die Große Deutsche Funkausstellung präsentierte Know-how. Bald strahlte der Berliner Funkturm seine Wellen aus. Bertolt Brecht konstatierte: „Die Resultate des Radios sind beschämend.“ Es sollten Menschen nicht bloß Ton-Empfänger, sondern Mitgestaltende der Sendungen wie überhaupt ihres Lebens sein. Dieses Ansinnen, natürlich, blieb unerhört. Weiter versammelten sich deutsche Familien daheim und bald auch die „Gefolgschaften“ in den Betrieben vor Telefunken-, Siemens- oder Loewe-Apparaten, ließen sich berieseln oder lauschten gebannt, ohne den Mund aufzutun, also unmündig, wenn der Führer sprach oder Ilse Werner pfiff.

Krieg, Nachkrieg, Kalter Krieg – das waren die großen Zeiten des deutschen Radios. Nun wird es 100 und ist genau das, eine Erfindung von vorgestern. In einer Welt, die von Bildern bewegt ist, wirbt selbst die Firma Audible, Herstellerin von Hörbüchern, -spielen und Podcasts, für ihre Produkte so: Du setzt deine Kopfhörer auf, hörst, und es überwältigen dich Farben.

Einige wenige lieben es, nur zu hören. Hörfunk-Features vielleicht, wo eine Auto- zur Audiowerkstatt wird. Sie schätzen den Fantasiefreiraum, der sich ihnen bietet. Fühlen sich weniger manipuliert. Eine Mehrheit denkt anders. Und so ist Radio Relikt. Wer braucht noch piepsende Zeitzeichen und Nachrichten pünktlich zur vollen Stunde? Über den aktuellen ukrainischen Frontverlauf informieren wir uns anderswo. Die im Homeoffice Arbeitende lauscht einem Podcast. Der vom Somalia-Einsatz heimgekehrte Kriegsblinde – nennen wir ihn Volker, Volker hört die Signale –, aber hört er den Deutschlandfunk? Die junge Frau aus Suhl jedenfalls, die vom Westen träumt, fährt einfach rüber. Und wenn wir User in Kürze tief in digitale Welten absteigen, werden es Bilderräume sein, untermalt von Sounddesign.

So also gellt das Gute-Laune-Geschrei aus den Funkkabinen der Privatsender schrill verzweifelt. Die Öffentlich-Rechtlichen sterben leiser. Sie bezahlen mit unseren Beiträgen noch Rundfunkchöre und -orchester, erfüllen ihren politischen Auftrag, werden im Übrigen aber kaputtgespart. Wo vergleichsweise preiswert produziert wird, drosselt die ARD ihre Ausgaben derart, dass, während im TV die Tour de France weiter durch die Alpen dopt, Hörspielautor*innen vor den Türen von WDR und DLF verhungern. Die Redaktionen hoffen auf ein Überleben zwischen Niederung und Niveau. Wer aber „gutem Radio“ zuhören möchte, fühlt sich von Häppchen-Programmen kaum gemeint. Und wer es knallig will und Hits in „heavy rotation“ bevorzugt, verirrt sich da nicht hin.

Radio, es war schön mit dir. Und gruselig. Als du aus Volksempfängern, später Kofferradios töntest, hattest du deine große Zeit. Sie ist vorbei. Martha Unruh im Feierabendheim Silberhöhe wird 90, es singt Willy Schneider. Man müsste noch mal 20 sein. Und so verliebt wie damals.

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