100 Jahre Radio: Und Friedrich Merz muss schweigen

Kolumne Anlässlich von 100 Jahren Radio fragt sich unser Kolumnist, ob der Podcast das alte Medium Radio nun ablösen wird. Denn, so richtig das Gleiche ist es ja nicht: Das manchmal steif anmutende Radio und der oft zu leger daherkommende Podcast
Ausgabe 43/2023
Medienkonsum war früher anders – und schwerer
Medienkonsum war früher anders – und schwerer

Foto: Picture Alliance/Ullstein

Ich bin jetzt in dem Alter, in dem ich Texte mit „Ich bin jetzt in dem Alter“ beginnen kann. In dem ich auf ein Früher zurückblicken kann, in dem die Dinge noch anders liefen. Zum Beispiel der Medienkonsum. Ich bin mit Radio groß geworden. Jeden Morgen vor der Schule habe ich um 6.55 Uhr die Sportsendung auf Bayern 5 Aktuell (heute BR24) gehört, am Wochenende die Bundesliga-Konferenz auf Bayern 1, später dann die Literatursendung Diwan auf Bayern 2. Das Radio, ob im Auto, in der Küche oder im eigenen Zimmer – es gehörte immer dazu.

Und heute? Wird das Radio 100 Jahre alt, ich schreibe über Podcasts und muss natürlich qua Podcastkolumnistenamt fragen: Hat sich das mit dem Radio bald erledigt? Werden Podcasts bald alles übernehmen? Frisst das neue Audioformat das alte? Die Vorzüge liegen auf der Hand: Kein Podcast muss ins Korsett des linearen Programms gepresst werden, keinen Expert:innen wird vom DLF-Gedudel kurz vor den Nachrichten das Wort abgeschnitten. Podcasts dauern einfach so lang, wie sie dauern, alles ist möglich. Das gilt auch für den Inhalt. Es ist Platz für alle Formate, jedes Interesse, jede Nische.

Radio und Podcasts befinden sich von jeher in einem gewissen Spannungs- und Konkurrenzverhältnis. Man konnte das in den vergangenen Jahren immer wieder erleben. Auf einmal war der Podcast-Hype in aller Munde, von Radio sprach da kaum noch jemand. Mit ein paar Ausnahmen reagierten Radiojournalist:innen erst einmal mit einer gewissen Distanz zum neuen Medium. Frei nach dem Motto „Was braucht es Podcasts, wir machen doch den lieben langen Tag nichts anderes“.

Dem ist natürlich nicht so. Der Tonfall im Podcast ist ein anderer als der im Radio, lockerer, unbefangener und, ja, manchmal auch etwas amateurhafter. All das ist gut so – aber eben kein Radio. Und ein Mitschnitt von Essay und Diskurs oder Campus & Karriere im Podcatcher ist umgekehrt noch lange kein Podcast, sondern eine Radiosendung zum Nachhören.

Zumindest in dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Radio-Moderator:innen haben sich mühselig die allzu förmliche steife Haltung abtrainiert und sich auf manchmal urig anzuhörende Art und Weise das kumpelhafte Du angewöhnt, Radiojournalist:innen versuchen sich immer häufiger an „echten“ Podcast-Formaten. Sei es der Politikpodcast im Deutschlandfunk, Himmelfahrtskommando von Bayern 2 oder das Coronavirus-Update im NDR.

Sind Podcasts also das neue Radio? Werden peu à peu alle Radiojournalist:innen zu Podcaster:innen umgeschult? Immerhin sendet Zeit Online schon mal die hauseigenen Podcasts in Dauerschleife – unter dem Titel Zeit Radio.

Ich hoffe es nicht. Denn Radio und Podcasts sind eben nicht das Gleiche – und sie sollten es auch nicht werden. Ich wünsche mir stattdessen weiterhin eine Koexistenz. Einerseits für die wunderbare Welt der Podcasts, die schon so viele Phasen der Professionalisierung und Kommerzialisierung über sich ergehen lassen musste. Wenn sich dort die Radiosender noch breiter machen als ohnehin schon, wird es für die kleinen, unabhängigen Formate immer schwieriger im Kampf um Aufmerksamkeit.

Aber ich wünsche es mir auch für das Radio. Dieses wunderbare lineare Live-Medium, in dem ein staubtrockener Nachrichtensprecher mit Grabesstimme das Jugendwort des Jahres „gringe“ statt „cringe“ (sprich: krinsch) ausspricht, in dem die Live-Interviews noch richtig unbequem sein können und in dem zumindest die Chance besteht, dass Friedrich Merz mit dem Verweis auf die Nachrichten einfach das Mikro abgedreht wird. Das klingt vielleicht etwas nostalgisch, aber das darf ja auch mal sein. Ich bin jetzt in dem Alter – und das Radio ist es erst recht.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

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