Inzwischen hat die Europäische Union das 13. gegen Russland gerichtete Sanktionspaket verabschiedet. Obwohl es sich in der Summe um die umfassendsten ökonomischen Strafmaßnahmen der modernen Geschichte handelt, brachten sie nicht den gewünschten Erfolg, auch wenn die betroffene Ökonomie deswegen erhebliche Probleme zu lösen hat.
der Freitag: Herr Timofejew, die Wirtschaft Ihres Landes wächst trotz Arbeitskräftemangel. Westliche Analysten führen das vorrangig auf die Waffenproduktion für den Krieg zurück. Denken Sie, das ist der Grund?
Iwan Timofejew: Es ist übertrieben, dies so zu sehen. Sicher trägt die Wiederbelebung der Verteidigungsindustrie zu den Wirtschaftsfaktoren bei, die belebend wirken, doch anderes ist wichtiger. So
;chst trotz Arbeitskräftemangel. Westliche Analysten führen das vorrangig auf die Waffenproduktion für den Krieg zurück. Denken Sie, das ist der Grund?Iwan Timofejew: Es ist übertrieben, dies so zu sehen. Sicher trägt die Wiederbelebung der Verteidigungsindustrie zu den Wirtschaftsfaktoren bei, die belebend wirken, doch anderes ist wichtiger. So kam es zu einem Aufschwung von einheimischen Produktionen nach dem Abzug westlicher Unternehmen. Beispielsweise werden westliche Zivilflugzeuge nicht mehr geliefert. Wir hatten daher einfach keine andere Wahl, als die eigene Luftfahrtindustrie wieder zu beleben. Dann wurde der Bezug Hunderter von Industriegütern für Russland verboten. Was geschah? Sie wurden teils durch chinesische Waren ersetzt. Aber es profitieren auch russische Unternehmen, die vor den Sanktionen viel westliche Konkurrenz hatten. Natürlich können ihre Produkte teurer oder von verminderter Qualität sein, dennoch erobern sie nun Marktanteile. Das löst ein Wachstum aus, mit der Folge, dass es heute bei uns praktisch keine Arbeitslosigkeit gibt. Die Wirtschaft saugt Arbeitskräfte auf wie ein Staubsauger. Die Arbeiter aus Zentralasien reichen nicht mehr, man erwägt, Arbeitskräfte aus Indien einzuladen.Was ist mit dem Wegfall einst geschätzter Kunden für Erdöl und Gas?Es war wichtig, die Lieferung dieser Rohstoffe schnell in befreundete Länder umzuleiten. Nun sind China und Indien Hauptabnehmer, nicht mehr die EU. Der Handel mit China hat längst die Marke von 200 Milliarden Dollar pro Jahr überschritten, der mit Indien die von 50 Milliarden.Welche Probleme gab und gibt es dennoch?Natürlich viele. Wegen der Sanktionen sind die Kosten gestiegen, die Erneuerung von Produktionsanlagen wurde schwieriger. Das ist für viele Branchen schmerzhaft. Es hilft Russland jedoch, dass es eine Marktwirtschaft hat. Die Firmen suchen selbst nach Überlebensstrategien. Und finden sie – die Alternative wäre der Tod.Der Westen will nun sekundäre Sanktionen gegen russische Handelspartner verhängen, um die Wirkung seiner Strafen zu verstärken. Wie wird sich das auf Russland auswirken?Ich verwende viel Zeit darauf, derartige Sanktionen zu studieren. 2023 wurden sie hauptsächlich gegen kleine Zwischenhändler angewandt, die bei Militär- oder Dual-Use-Gütern Exportkontrollen umgangen haben. Das hatte auf die Gesamtwirtschaft keine großen Auswirkungen. Das Ganze hinterlässt mehr eine psychologische Wirkung. Großunternehmen haben schon vor dem Wort „Sekundärsanktionen“ Angst. Banken und Konzerne in befreundeten Ländern beziehen sie in ihre Risikokalkulation ein. Das erschwert Kooperation im Finanzbereich und bei einzelnen Gütern. Dennoch zeigen sich keine Folgen auf makroökonomischer Ebene. Die Wirkung direkter Sanktionen ist gravierender. Aber sie führen nicht zum Zusammenbruch, sondern zu Anpassungsdruck. In Russland glaubt kaum jemand an ein baldiges Ende der Sanktionen. Der Handel mit dem Westen ist ein verbranntes Feld, vielleicht für Jahrzehnte.„Gerade bricht in Russland die Zahl derer, die Chinesisch lernen, alle Rekorde“Es gibt ja auch Reisesanktionen, Russen können kaum noch in die EU reisen, menschliche Kontakte leiden. Verstärkt das Feindbilder auf beiden Seiten?Die sind längst da. Es gab sie schon vor 2022. In der Wirtschaft blieben sie eher unsichtbar. So waren Russland und Deutschland vorbildliche und voneinander abhängige, sich ergänzende Wirtschaftspartner. In den Medien und der Politik gewann die Feindseligkeit hingegen unablässig an Dynamik. Dennoch gab es enge menschliche Beziehungen. Millionen Russen und Deutsche haben die Grenzen überschritten, haben gearbeitet, studiert und sich kennengelernt. Nur hat das unser Verhältnis nicht vor dem Scheitern bewahrt. Eine wichtige Lektion: Die Politik kann Errungenschaften der Wirtschaft und menschliche Beziehungen verschlingen. Beiden Seiten bescherte das erheblichen Schaden. Immer mehr Menschen nehmen die Realität des jeweils anderen Landes einzig und allein über die Medien wahr.Sie haben die Neuausrichtung Russlands nach Süden und Osten erwähnt. Besteht hier nicht die Gefahr, dass Handelspartner Ihre fehlenden Alternativen ausnutzen und die Konditionen diktieren?Die gibt es sicher. Noch hat sie keine entscheidende Bedeutung. Wichtiger sind wirtschaftliche Faktoren wie fehlende Transportinfrastruktur, Logistik-Probleme oder solche, die bei Banktransaktionen auftreten. Aber Geschäft ist Geschäft. Verhandlungen über einzelne Deals können zäh sein, nur waren sie das schon vor dem Abbruch der Beziehungen mit der EU. Russland bleibt trotz allem ein attraktiver Markt. Ich sehe dabei keine ausschließliche Abhängigkeit von einem Partner.Sollte der Krieg in der Ukraine enden, wie lange könnte eine Normalisierung zwischen der EU und Russland dauern?Beide waren früher durch den Handel eng verbunden. Das wurde aus politischen Gründen in den vergangenen Jahren systematisch und erfolgreich zerstört. Sanktionen und politische Risiken werden noch lange auf den Resten unserer Wirtschaftsbeziehungen lasten. Jeder pragmatische Unternehmer wird nach Alternativen suchen, bei Lieferanten, Märkten und Finanzen. Früher habe ich mit dem Flugzeug zwei Stunden nach Berlin gebraucht, jetzt sind es über Istanbul oder Belgrad zwölf. Ich bin in der Hälfte der Zeit in Delhi – mit einem Einreisevisum und vor allem ohne Belehrung, wie schlimm Russland ist. Auch in Peking oder im arabischen Raum bin ich schneller. Die entstandene Situation hat ihre eigenen Momente. Gerade bricht in Russland die Zahl derer, die Chinesisch lernen, alle Rekorde, auch ich tue das. Kultur ist stressresistent, und Russlands Kultur wird sich nach Osten bewegen. Man wird sehen, wie tief dieser Wandel sein wird.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1