Sanktionen: Die USA und die EU strafen derzeit mehr als ein Dutzend Länder weltweit

Notstand Weder in Afghanistan noch in Syrien, im Iran oder Jemen haben ökonomische Strafmaßnahmen das politische Verhalten der Führungen verändert. Leidtragend ist besonders die Bevölkerung, wenn sie fortgesetzter Verarmung ausgesetzt ist
Ausgabe 13/2024
Auch Afghanistan wird von EU und USA wirtschaftlich sanktioniert – darunter leidet vor allem die Bevölkerung
Auch Afghanistan wird von EU und USA wirtschaftlich sanktioniert – darunter leidet vor allem die Bevölkerung

Foto: picture alliance/Associated Press/Ebrahim Noroozi

Wenn heute von Wirtschaftssanktionen die Rede ist, denkt man an Russland, den Iran oder Nordkorea. Doch die USA und die EU sanktionieren sehr viel mehr Länder weltweit und verursachen so nach Ansicht von Experten Hunger, Krankheit und Tod, dazu teils heftige Flüchtlingsbewegungen. Betroffen sind besonders Syrien, Venezuela, Myanmar, Afghanistan, der Jemen, die Demokratische Republik Kongo, Niger, Mali oder Libyen.

Das Argument klingt fast immer gleich: Man müsse gegen diktatorische Regime vorgehen, von denen Menschenrechte brutal verletzt würden. Bei fast allen reglementierten Staaten handelt es sich um Entwicklungs- oder Schwellenländer, die von internen Konflikten bis hin zu Bürgerkriegen, oft auch von Katastrophen wie Erdbeben erschüttert wurden. „Weder die Taliban in Afghanistan noch das Assad-Regime in Syrien haben wegen der Sanktionen ihr Verhalten geändert“, sagt Conrad Schetter vom Internationalen Zentrum für Konfliktforschung (BICC) in Bonn. „Und Menschen, die für lange Zeit einer Notlage ohne Perspektive ausgesetzt sind, marschieren irgendwann in Richtung Europa.“

Sanktionen begünstigen Hunger in Afghanistan

Verwundern kann das kaum. In Afghanistan hat sich seit dem Rückzug der USA und anderer NATO-Staaten im Sommer 2021 die Lage massiv verschlechtert. Die Regierung in Washington verhängte umgehend Strafmaßnahmen gegen die neuen Machthaber, um unter anderem das Banksystem zu treffen, sodass Geldtransaktionen behindert und Lebensmitteleinfuhren drastisch verteuert wurden. Im Oktober 2023 schlug das UN-Welternährungsprogramm Alarm, als für Afghanistan die Mittel im Kampf gegen den Hunger im Vergleich zu 2022 um 80 Prozent gekürzt wurden – von 1,6 Milliarden Dollar auf noch 340 Millionen. „15 Millionen Afghanen hungern derzeit. Wegen der fehlenden Finanzierung waren wir gezwungen, die Hilfe zu kürzen“, so WFP-Regionaldirektor John Aylieff. „Selbst wenn die Taliban problematische Entscheidungen treffen, die Humanität muss an erster Stelle stehen.“

Die aus Afghanistan stammende und in den USA lebende Rechtsanwältin Wazhma Sadat gibt im US-Magazin Foreign Policy Berichte ihrer Verwandten wieder. Einige hätten noch bis vor kurzem arbeiten können, teilweise kleine Unternehmen geführt, heute müssten sie um Essen betteln. Statt größere Schäden zu verhindern, empfänden repressive Regierungen Sanktionen nicht selten als Legitimation, weiterhin Regeln zu brechen, urteilt Michael Kunz vom Schweizer Verein „Afghanistanhilfe“, der seit über 30 Jahren professionellen Beistand vor Ort leistet. Erfahrungen besagen, dass Absprachen mit den Taliban möglich sind. „Obwohl ein Arbeitsverbot für Frauen eingeführt wurde, konnten wir uns auf lokaler Ebene mit gemäßigten Taliban auf Ausnahmen im Gesundheitswesen einigen. Es ist wichtig, diese moderaten Kräfte gegenüber den Radikalen zu stärken.“

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass 5,7 Millionen Afghanen das Land verlassen haben. Sie bildeten – nach Syrern und Ukrainern – die drittgrößte Flüchtlingsgruppe der Welt. Gut 90 Prozent dieser Geflüchteten halten sich im Iran (3,4 Millionen) und in Pakistan (etwa 1,7 Millionen) auf. An dritter Stelle steht Deutschland mit mehr als 200.000.

Medizinische Versorgung in Syrien betroffen

Ähnlich verhält es sich mit Syrien. Gegen die Regierung von Baschar al-Assad hatten die USA und die EU bereits zu Beginn des bewaffneten Konflikts im März 2011 Strafen verhängt, die während der Präsidentschaft Donald Trumps im Rahmen des Caesar Act stark ausgeweitet wurden. Die UN-Menschenrechtsexpertin Alena Douhan veröffentlichte nach einem Syrien-Besuch im Sommer 2023 ihren Bericht, in dem es hieß: „Die Blockade von Bankzahlungen und verweigerte Lieferungen durch ausländische Produzenten (...) haben zu schweren Engpässen bei Medikamenten und medizinischer Ausrüstung geführt.“ 90 Prozent der Syrer lebten unterhalb der Armutsgrenze und hätten nur begrenzt Zugang zu Nahrung, Wasser, Strom, Medikamenten und Heizmaterial.

Ibrahim Mohammad lebt seit 1998 in Berlin und ist promovierter Ökonom. Seine Mutter und seine Geschwister blieben in Syrien, wo er sie regelmäßig besucht. „Die Sanktionen haben sich verheerend auf die Bevölkerung ausgewirkt, Industrie und Landwirtschaft sind zerstört, die Wirtschaft ist nach 2011 um 70 Prozent geschrumpft. Einem befreundeten Geschäftsmann bleibt es versagt, Vorprodukte aus Deutschland für die Herstellung von Hygieneartikeln zu importieren, weil er kein Geld ins Ausland überweisen kann.“ Syrische Unternehmen müssen zudem Firmen in China, Brasilien oder im arabischen Raum abschreiben, da diese mit Strafen rechnen müssen, wenn Geschäftskontakte aufrechterhalten werden. So floriert allein der Schwarzmarkt.

Bis zu dem katastrophalen Erdbeben in Syrien und der Türkei im Februar 2023 wurden die Sanktionen aufrechterhalten. Die Aufhebung diente seither lediglich dazu, den Fluss der humanitären Hilfe zu erleichtern. Daher schlug Paulo Pinheiro, Vorsitzender der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission der UNO für Syrien, im Oktober 2023 in der UN-Generalversammlung Alarm: „In den letzten zehn Jahren gibt es keinen Beweis dafür, dass sektorale einseitige Zwangsmaßnahmen zu positiven Veränderungen im Verhalten der Regierung geführt haben. Es sind die einfachen Menschen, die die Hauptlast zu tragen haben. Syrien ist nach wie vor Schauplatz der größten Flüchtlingskrise der Welt mit mehr als sieben Millionen Syrern, die aus dem Land geflohen sind.“ Im Vorjahr stellten rund 104.000 Syrer in Deutschland erstmals einen Asylantrag.

Als Fazit bleibt, dass die zerstörerischen Auswirkungen von Sanktionen unterschätzt werden und es dabei zumeist nicht um Demokratie oder Menschenrechte geht, sondern die Bestrafung von Regierungen, die nicht mit dem Westen verbündet sind. Abdulkader Sinno, Professor für Politikwissenschaft und Nahoststudien an der Indiana University in Bloomington, USA, fasst die möglichen Folgen einer solchen Sanktionspolitik auf der Plattform East Asia Forum am Beispiel Afghanistans so zusammen. „Es ist wahrscheinlich, dass sich die Kurzsichtigkeit des Westens und die Starrheit der Taliban durchsetzen und die afghanische Zivilbevölkerung dafür mit ihrem Leben bezahlen wird. Die westlichen Länder können die Auswirkungen ihrer Politik durch Ad-hoc-Nahrungsmittelhilfe verschleiern, und die Taliban können sich weiterhin an der westlichen Feindseligkeit rächen, indem sie gegen Frauen und Anhänger einst mit den USA verbündeter Gruppen vorgehen. In diesem Prozess können die Taliban ihrem seltenen Verbündeten al-Qaida größere Autonomie gewähren.“ Das letzte Mal, schreibt Sinno, wurden ähnliche Sanktionen gegen die Taliban 1999 verhängt, die zu einer engeren Zusammenarbeit mit al-Qaida, den Anschlägen von 9/11 und „einem globalen, von den USA geführten ,Krieg gegen den Terror‘“ geführt hätten, der noch immer nicht zu Ende ist. Ist es das, worum es bei den Sanktionen geht?

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