Konflikte an Schulen: „Für einen respektvollen Austausch muss man kein Nahostexperte sein“

Interview Die Bilder der Angriffe der Hamas auf Israel bekommen auch Kinder und Jugendliche mit. Sind Konflikte in den Schulen zu erwarten? Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak plädiert für einen Dialog auf Augenhöhe mit den Jugendlichen
Ausgabe 42/2023
Ist Flagge zeigen ein Problem? Nein, sagt Professor Ahmet Toprak (Symbolfoto)
Ist Flagge zeigen ein Problem? Nein, sagt Professor Ahmet Toprak (Symbolfoto)

Picture alliance

Die Bilder der Angriffe der Hamas auf Israel bekommen auch Kinder und Jugendliche mit. Wie geht man mit Konflikten in Schulen um? Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak plädiert für einen Dialog auf Augenhöhe mit den Jugendlichen.

Der Freitag: Herr Toprak, wahrscheinlich haben auch Sie das Video von dem Vorfall an der Neuköllner Schule gesehen. Ein Schüler hält eine Palästinenser-Flagge hoch, daraufhin kommt es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem Schüler und dem Lehrer. Wie bewerten Sie diese Eskalation auf dem Schulhof: ist die Lage an vielen Schulen derzeit so angespannt?

Ahmet Toprak: Ich komme aus der Konfliktforschung und mir ist es wichtig, erst einmal hinter einen solchen Konflikt zu schauen. Wie ist es also so weit gekommen? Warum ist der Lehrer ausgeflippt, was er als professioneller Pädagoge nicht tun sollte? Und warum hat der Schüler ihn derart mit der Palästinaflagge provoziert?

War das denn eine Provokation?

Die Frage ist doch, wenn jemand eine Palästinaflagge schwenkt, muss man diese sofort entfernen?

Muss man?

Soweit ich weiß, ist die palästinensische Flagge nicht verboten. Im Gegensatz zur PKK-Flagge. Da muss man die Kirche schon im Dorf lassen. Es ist gefährlich, diesen Konflikt nur anhand des Videos zu beurteilen. Denn was uns als hier als kurzer Videoschnipsel präsentiert wurde, ist ja nur die mediale Spitze des Konflikts.

Gut, dann versuchen wir uns die Situation etwas genauer anzuschauen. Angesichts der grausamen Bilder und den Nachrichten aus Israel und Gaza sind Schüler*innen und Lehrer*innen erschüttert in den Schulen erschienen. Was hätten Sie der besagten Schule aus dem Video geraten?

Die Brutalität der Terrorattacke mag sich nicht jedem Schüler gleich erschließen. In Schüler-Lehrer-Konstellationen sollte man trotz allem in den Dialog gehen. Unsinnig wäre es, Diskussionen zu führen, in die Historie einzutauchen und zu diskutieren, wer im Nahostkonflikt recht oder nicht recht hat. Es geht um den Austausch von Argumenten – auch wenn Schüler Argumente vortragen, die im ersten Moment unerträglich sein können. Das ist nun mal bekannt, dass Jugendliche in dem Alter anecken wollen. Unerträglichen Argumenten der Schülerschaft sollte man mit Gegenargumenten begegnen und die Meinung nicht von vornherein abwerten. Im Dialog zu bleiben, ist meines Erachtens gerade das wichtigste Ziel.

Und wo liegt für sie die Grenze in der Diskussion?

Mit Verboten kommen wir definitiv nicht weiter.

Wo liegen denn dann die Grenzen?

Bei gewaltverherrlichenden Äußerungen, also wenn der Tod von Zivilisten verherrlicht wird oder Menschenrechte missachtet werden. Das argumentieren viele Jugendliche mit Migrationsgeschichte ja schon ganz gut, sie treten gegen Diskriminierung und Religionsfreiheit ein, aber beachten dann nicht die Freiheit der Anderen. Aber diese Rechte gelten eben auch für die Gegenseite und für andere Religionen.

Foto: Marcus Heinze

Ahmet Toprak, 53, ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist interkulturelles Konfliktmanagement. Er ist zudem Autor mehrerer Sachbücher zu muslimischen Jugendlichen und Familien. Sein letztes Buch erschien 2019 im Ullstein Verlag: Muslimisch, männlich, desintegriert: Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schief

Vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil an Schüler*innen mit Migrationsgeschichte greift unter dem Lehrpersonal derzeit die Befürchtung, dass die Konflikte hochkochen oder eskalieren könnten. Berechtigt?

Wenn ich sage „in den Dialog gehen“, dann meine ich damit, dass man die Konflikte nicht schmoren lässt und erst reagiert, wenn es bereits zu spät ist. Das Abwerten der Schülermeinung führt nur zu mehr Identifikation. Auf der Makroebene bin ich aber davon überzeugt, dass es gar nicht um Israel oder Palästina geht.

Sondern?

Bei vielen, nicht bei allen Jugendlichen mit Migrationserfahrung, das möchte ich betonen, steht die Situation in Palästina stellvertretend für die Benachteiligung der Muslime auf der Welt. Die Identifikation der Jugendlichen mit den unterdrückten Palästinensern ist in vielen Köpfen mittlerweile verankert. Dieses Bild wird von Predigern und sogenannten Vorbildern bestärkt und somit fortgeführt. Es ist also nicht nur der Konflikt Israel versus Palästina – sondern es entsteht das Bild, dass die Muslime, die unterdrückt werden, sich wehren sollen. Deshalb ist das Thema auch so hochemotional.

Aber hilft denn dann immer noch der Dialog?

Mit emotionalen Gegenargumenten werden sie hier wahrscheinlich niemanden überzeugen. Sie kennen wahrscheinlich auch aus der türkischen Politik das Opfernarrativ und den Kampf des Landes gegen die bösen internationalen Mächte, welche auch in der Politik der arabischen Welt eine Rolle spielen. Dies kann und sollte man thematisieren, dass das ein Teil der politischen Tradition ist, dass die eigenen Missgeschicke auf abstrakte Mächte übertragen wird. Und natürlich fallen dann auch israelfeindliche Argumente. Hier muss ich als Lehrkraft diese Argumentation dekonstruieren. Sprechverbote nützen nichts und diese begegnen uns dann verstärkt wieder.

Interessant übrigens, dass Sie hier „israelfeindlich“ sagen und nicht antisemitisch.

Ja, das habe ich bewusst so genannt, weil die Jugendlichen den Nahostkonflikt auf Israel beziehen. Wenn man bei den Heranwachsenden genauer fragen würde, sind das reine Parolen und keine feststehende Meinung.

Würden denn Projekte und Externe hier helfen, die sich mit dem Thema Nahostkonflikt auskennen? Viele Lehrer*innen scheinen verunsichert, weil sie sich nicht gut genug auskennen.

Klar, das kann punktuell helfen. Aber man muss sich mit dem Konflikt auch nicht so gut auskennen. Präventionsarbeit ist tägliche Arbeit. Es geht um den respektvollen Austausch und dafür muss man kein Nahostexperte sein. Es reicht doch, wenn man in der Schule gemeinsam überlegt, was man braucht, um in der Schule konfliktfrei zu leben.

Sind Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte, aufgrund ihrer eigenen Nähe zum Thema, schon von Haus aus besser aufgestellt in der Argumentation? Stärkt die Herkunft der Lehrer*innen die Offenheit bei den Schüler*innen?

Jein. Aus der Forschung wissen wir, Migrationshintergrund per se fördert nicht die interkulturelle Kompetenz. Es geht darum, ob die Fachkraft seine Herkunft reflektiert hat. Auch Menschen mit Migrationsgeschichte können kultur- und religionsblind und Probleme in der eigenen Community nicht sehen wollen. Ansonsten ist der Hintergrund als solcher nicht unbedingt ein Muss für einen guten Dialog mit den Schülerinnen und Schülern. Aber es kann helfen, klar.

Was raten Sie denn den Eltern von Schulkindern derzeit?

Natürlich muss man die Lage sensibel beobachten und auch als Ansprechpartner fürs Kind da sein. Solange in der Schule Konflikte auf der argumentativen Ebene ausgetragen werden, würde ich hier nicht dramatisieren.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ebru Taşdemir

Redakteurin „Politik“

Ebru Taşdemir studierte Publizistik und Turkologie an der FU Berlin und arbeitete als freie Autorin für verschiedene Medien. 2017-2019 war sie Redakteurin bei der deutsch-türkischen Medienplattform taz.gazete. Von 2019 bis 2022 war sie Chefin vom Dienst im Berlin-Ressort der taz. Sie ist Mitglied der Nominierungskommsission Info und Kultur des Grimme-Preises und Kolumnistin der Reihe „100 Sekunden Leben“ im Inforadio des rbb. Beim Freitag ist sie mit den großen und kleinen Fragen rund um Feminismus, Gender, Teilhabe und Migration betraut.

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