Abgehängt: Friesland ist der Osten des Westens

Meinung Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung, Langeweile: Kennt man alles in Wilhelmshaven. Nur die AfD wurde hier nicht gewählt. Bis jetzt. Was ist passiert?
Ausgabe 41/2022
Kaiser-Wilhelm-Brücke in Wilhelmshaven
Kaiser-Wilhelm-Brücke in Wilhelmshaven

Foto: Imago/Shotshop

Kennen Sie diese interaktiven Deutschlandkarten? Einkommen, Abwanderung, Corona, ein Flickenteppich der Republik. Die Ost-Flicken sind meist anders gefärbt als im Westen. Nur im Norden des Westens findet sich eine kleine Fläche in Ost-Blass: Wilhelmshaven. Genauso arm, genauso abgehängt, genauso schrumpfend. Friesland, sage ich immer, ist der Osten des Westens. Ich komme aus Wilhelmshaven, ich darf das sagen, und ich fügte stets hinzu: Nur wählen wir nicht AfD! Jetzt sage ich das nicht mehr. Das Blau ist im Norden angekommen.

Wie Corona. Hier konnte man auf den Karten in Echtzeit nachverfolgen, wie lange das Virus brauchte, um bis Wilhelmshaven vorzudringen – so lange wie in die Uckermark. Abgeschnitten von globalen Menschenströmen. Oder wie beim Pro-Kopf-Einkommen: Das sind 1.950 Euro in Wilhelmshaven, weniger als im sächsischen Görlitz, der vorpommerischen Uckermark und dem sachsen-anhaltinischen Stendal.

Deindustrialisierung, Wegzug, Langeweile: Kennen wir alles. „Unsere“ Stadt wurde als preußischer Marinehafen für Kaiser Wilhelm I. gebaut, „unsere“ Hauptattraktion ist die K-W-Brücke, das sagt wohl alles. „Unser“ Hafen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unwichtig, Firmen schlossen, und als 1992 auch „unser“ Olympia-Werk für Schreibmaschinen mit 3.600 Arbeiter*innen schloss, waren „wir“ wohl offiziell deindustrialisiert. Arbeitslosigkeit 2021: 10,9 Prozent. So hoch wie nirgends im Osten.

Doch egal, wie steif die Brise wehte, blau färbte sich hier nichts. 2017 kam die AfD in Niedersachsen kaum in den Landtag, in Wilhelmshaven holte sie acht Prozent (in Görlitz waren es bei der Sachsenwahl 36,6 Prozent!). Das ist unser alter sozialdemokratischer Geist, sacht man als Linke in Schlicktown gerne. Denn Sie müssen wissen: Die Revolution ging ja von „uns“ aus! Hier verweigerten Matrosen schon im Oktober 1918 die Befehle, hier rissen am 8. November 1918 revolutionäre Matrosen die Reichskriegsflagge herunter, hissten die rote Flagge – und riefen die „sozialistische Republik Oldenburg/Ostfriesland“ aus. Danach Kiel, den Rest kennen Sie. Hier halten wir viel auf „unsere“ Arbeiterschaft. Doch die schrumpfte: Erst musste die Erdölraffinerie in den 1980ern wegen der Ölkrise zeitweise schließen, dann Olympia, die Bundeswehr verkleinerte den Standort. In den 1970er und 1980er Jahren hatte Wilhelmshaven 100.000 Einwohner*innen, 2013 dann 78.000. „Wir“ waren offiziell die am stärksten schrumpfende kreisfreie Stadt Niedersachsens.

Als die Geflüchteten kamen, stieg die Einwohnerzahl, 2018 war die 80.000 fast geknackt. Von Herausforderungen in der Integration war viel die Rede, die Gemeinden überlastet, alleingelassen. Doch die AfD? Watete zwischen fünf und acht Prozent im Schlick.

Nun hat Wilhelmshaven auch 2022 keine blaue Färbung angenommen: 14 Prozent erhielt die AfD, im ostfriesischen Aurich 15,6 Prozent – weit entfernt von sächsischen Verhältnissen, und passend zum Bundestrend. Trotzdem: Was die Krise der Migrationspolitik nach 2015 nicht erreichen konnte, schafft die Energiekrise. Die AfD steht nun mit einem Bein an Land. Protestwahl, sagen Demokratieforscherinnen, die Angst vor der Inflation, die Erinnerung an die Ölkrise. Doch die AfD-Migrationspolitik wurde von den Krisenverängstigten nicht bloß in Kauf genommen. 99 Prozent ihrer Wählenden „fanden gut, dass sie den Zuzug von Flüchtlingen stärker begrenzen will“. Hier ist etwas passiert. Hier ist eine Partei als „Alternative“ angekommen – und es ist nicht die Partei mit der roten Flagge.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

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