Steht auf, Nutzer des iPhone 6!

Corona Die Warn-App beschleunigt die digitale Wende – und offenbart, wie schnell dabei die Interessen der Schwächeren vernachlässigt werden
Ausgabe 25/2020
Die Corona-Warn-App war ein Projekt von vielen, aber brauchbar ist sie nur für einige
Die Corona-Warn-App war ein Projekt von vielen, aber brauchbar ist sie nur für einige

Foto: Clemens Bilan/Getty Images

Sehen wir uns die 80 Millionen Menschen der Bundesrepublik mal von oben an: Was, wenn sie alle aufeinander abgestimmt wären, ihre Fähigkeiten, Schwächen, Krankheiten? Es wäre das perfekte Miteinander: die umfassend digitalisierte Gesellschaft.

Glaubt man den kindergleich strahlenden Augen der Bundesminister Horst Seehofer, Christine Lambrecht und Jens Spahn bei der Präsentation der Corona-Warn-App am Dienstag, sind wir dieser Utopie einen großen Schritt näher gekommen. Die Bundesregierung hatte dafür alle mit ins Boot geholt: Das Robert-Koch-Institut entwickelte einen Algorithmus zur Messung der Bedingungen für eine Corona-Ansteckung; das Fraunhofer Institut stellte die Bluetooth-Funktion von Smartphones darauf ein; SAP und Telekom sorgten für Softwarecodes; aus der Community kamen Tausende ehrenamtliche Hinweise zur Verbesserung. „Das ist das beste PPP-Projekt, das ich begleitet habe“, jubelte Telekom-Chef Timotheus Höttges, „Deutschland kann Digitalisierung!“ Horst Seehofer, neben ihm, lacht. Technik, die begeistert!

Datenschützer zeigten sich mit der Technologie zufrieden. Dennoch traten schnell Probleme auf: Die App funktioniert nicht auf Modellen, die 2015 oder früher produziert wurden. Etwa das iPhone 6, das noch immer viel und gerne genutzt wird – von denjenigen, die sich ein mehrere hundert bis tausend Euro teures aktuelles Apple-Phone nicht leisten können. Wer aus finanziellen Gründen – oder aus Gründen der Nachhaltigkeit, denn in Smartphones sind seltene Erden verbaut – alte Modelle benutzt, ist von der App-Nutzung ausgeschlossen: ein soziales Problem. Dabei zeigte jüngst eine Analyse des Instituts für Medizinische Soziologie in Düsseldorf, dass sozial benachteiligte Milieus von Corona ohnehin stärker betroffen sind: Für Hartz-IV-Bezieher liegt das Risiko, mit Covid-19 ins Krankenhaus zu kommen, im Vergleich zu Erwerbstätigen um 84,1 Prozent höher.

Anwaltskanzleien meldeten zudem vermehrte Anfragen von Unternehmern, ob sie ihre Angestellten zur Nutzung der App verpflichten dürfen. Auch Bundesjustizministerin Lambrecht räumte ein, dies sei rechtlich nicht ausgeschlossen. Linke und Grüne fordern daher ein Gesetz, das die Freiwilligkeit festschreibt und im Parlament diskutiert wird: Sollte eine tiefgreifende soziale Umwälzung wie die Digitalisierung des Infektionsschutzes nicht umfassend demokratisch abgesichert werden?

Der Beginn der Pandemie mag die Zeit der Exekutive gewesen sein, nun ist das Infektionsgeschehen niedrig – es kommt die Zeit der Legislative. Denn zu gestalten ist nicht nur der Kampf gegen die Pandemie: Erneut zeigt sich, dass die Krise gesellschaftliche Entwicklungen rasant beschleunigt, auch die digitale Wende. Die Bundesregierung wird sich in Zukunft vermehrt mit der staatlichen Regulierung digitaler Vernetzung zwischen Bürgerinnen befassen müssen. Allein im Verkehr! Die Entwicklung des autonomen Fahrens schreitet voran, ihre Voraussetzung ist die Erfassung der Bewegungsdaten von Millionen herumwuselnder Verkehrsteilnehmer. Das perfekte digitale Miteinander. Wie kann die Bundesregierung hier Datenschutz gewährleisten? Es ist Aufgabe der Linken und Sozialdemokraten, die Interessen sozial benachteiligter Gruppen in solchen Zeiten des rasanten Wandels zu verteidigen. Aber bei 80 Millionen Menschen: Wie soll man so viele Interessen berücksichtigen? Moment – dafür wurde ja auch mal ein spannendes Tool entwickelt: die parlamentarische Demokratie! Technik, die begeistert.

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