Stellt euch vor: Hartz IV könnte jetzt weg

Grün-Rot-Rot Es gibt eine reelle Chance, die soziale Katastrophe Agenda 2010 endlich abzuschaffen. Die Begeisterung dafür bleibt aber bislang aus
Ausgabe 09/2021
Demonstration des DGB am 1. Mai 2017 in Berlin. Die Abschaffung von Hartz IV war lange Zeit eine der wenigen Forderungen, auf die sich alle linken Strömungen einigen konnten
Demonstration des DGB am 1. Mai 2017 in Berlin. Die Abschaffung von Hartz IV war lange Zeit eine der wenigen Forderungen, auf die sich alle linken Strömungen einigen konnten

Foto: IMAGO/IPON

Eigentlich müsste Euphorie herrschen. Bei jenen, über die so viel gesprochen wurde in den letzten Jahren: bei den „Abgehängten“, bei denen, die Angst vor dem Abgehängtsein haben, und bei allen, denen die Sorge der Besorgten ein Anliegen ist. Euphorie! Denn: Hartz IV kann nun abgeschafft werden. Auf den Müllhaufen der Geschichte. Weg damit. Sagt die Linke, sagen die Grünen, sagt jetzt auch die SPD, im Entwurf für ihr Wahlprogramm.

Seit dem 1. Januar 2005 quält Hartz IV Menschen: Der Brief aus dem Jobcenter verursacht Übelkeit, der nahende Termin beim „Fallmanager“ löst Panikattacken aus, die kaputte Waschmaschine sorgt für Schweißausbrüche, der durchlöcherte Fußball der Tochter hier für Tränen, dort für Scham. Keine Möglichkeit, einen beschissenen Job abzulehnen. Und immer, immer die Drohung im Nacken, das letzte Geld gekürzt zu bekommen, falls man doch seinen Stolz wiederentdeckt und seine Würde verteidigt, vor denen da. Denen da im Jobcenter. Die selbst den Druck im Nacken verspüren, die Quote zu erfüllen, die Quote der vermittelten Scheiß-Jobs und der verhängten Sanktionen. Scheiß System.

Weg damit. Einfach so. Steht es im SPD-„Zukunftsprogramm“. Hartz IV soll es nicht mehr geben, dafür ein Bürgergeld, digital zugänglich: Also keine Gänge mehr zum Jobcenter! Die Regelsätze sollen nicht nur „zum Leben ausreichen und zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen“, sondern auch „absichern, dass eine kaputte Waschmaschine oder eine neue Winterjacke nicht zur untragbaren Last werden“. Dafür sollen sie „mit Betroffenen und Sozialverbänden“ entwickelt werden. Die in der Pandemie ausgesetzte Vermögensprüfung soll, ebenso wie die Prüfung der Wohnung, erst nach zwei Jahren greifen. Heißt: Kein Umzug! Zu Hause bleiben, in der Krise. Heißt: das Ersparte behalten. Und den wertvollen Schrank von Oma.

Der zentrale Satz lautet jedoch: „Dassozioökonomische und soziokulturelle Existenzminimum muss jederzeit gesichert sein. Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen schaffen wir ab.“ Dies könnte das System Hartz tatsächlich aushebeln: Ohne Sanktionen müsste sich niemand in unwürdige Arbeit hineinzwingen lassen. Es entstünde Handlungsspielraum. Das Gegenteil von Ohnmacht.

Es könnte ein historischer Moment sein: Die Grünen tun sich mit SPD und Linken zusammen, um die soziale Katastrophe Agenda 2010 abzuwickeln, die mindestens mitverantwortlich ist für Vertrauensverlust, Demokratieschädigung und Rechtsruck. Und mehr noch. Grün-Rot-Rot könnte eine neue politische Ära begründen, die in Berlin unter Rot-Rot-Grün schon spürbar ist: Der erfolgreich anlaufende Volksentscheid zur Vergesellschaftung der Wohnkonzerne lässt eine Sozialdemokratie glitzern, die mindestens diesen Namen verdient.

Doch da ist eben keine Euphorie. Im Bund. Da rufen von links zwei neue Vorsitzende: Verdrängen wir die CDU aus der Regierung! Doch es antwortet niemand. Die SPD hält sie sich offen, die Grünen ebenfalls, die Option Schwarz. Und dass die Union es nicht ohne Hartz macht, hat sie jüngst bewiesen. Also doch keine neue Waschmaschine?

Als Pegida noch jeden Montag auf den Straßen war, als die AfD-Kurve steil nach oben zeigte, da waren sie ach so wichtig, die Abgehängten und Besorgten. Und nun? Könnte R2G Hartz IV abschaffen und kommt nur auf 42 Prozent. Weil keiner ihnen glaubt. Wer traut sich, die Leute aufzurütteln, zu rufen, doch, seht her, Politik kann euer Leben verbessern, gebt ihnen eine Chance? Niemand traut sich. Es herrscht Stille. Zum Schreien.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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