Plötzlich Freud: Mitmachtheater kann traumhaft sein

Kolumne „Die Traumdeutung von Sigmund Freud“ am Akademietheater in Wien ist seit vier Jahren ein Hit. Die Rolle des Siggi muss eine Zuschauerin übernehmen. Unsere Kolumnistin Eva Marburg war dort – und erlebte eine narzisstische Kränkung
Ausgabe 16/2024
Welche dieser „Siggis“ ist wohl die Zuschauerin?
Welche dieser „Siggis“ ist wohl die Zuschauerin?

Foto: Matthias Horn

Immer wieder höre ich im Theaterparkett den Satz „O Gott! Wir sitzen zu weit vorne! Na, hoffentlich muss man hier nicht mitmachen!“, gefolgt von nervösem Gekicher. Ich habe diese Angst nie verstanden, denn wenig scheint mir im deutschsprachigen Theater so sicher zu sein wie die Tatsache, dass man im runtergedimmten Saal nun erst mal für eine Weile seine Ruhe hat. Anders ist nicht zu erklären, dass einige Menschen sich ausgerechnet das Theater dazu auserkoren haben, um gleich nach Ankunft im Sessel ins wohlverdiente Nickerchen zu fallen.

Nun, vor Kurzem war ich in Wien im Akademietheater, einer Spielstätte des Burgtheaters. Ich war neugierig auf die Bühnenadaption von Sigmund Freuds Traumdeutung. Die Produktion der aus Dublin kommenden Theatergruppe Dead Centre hatte bereits 2020 Premiere, ist aber bis heute in Wien ein Hit. Im Nachhinein betrachtet, hat die kluge und witzige Umsetzung genau die beiden beschriebenen Aspekte zur Grundlage ihres Abends gemacht: den Theaterschlaf und die Angst vor dem Mitmachenmüssen. Alles basierte auf der Idee, die Inszenierung als Albtraum anzulegen, nämlich: „Ich habe geträumt, ich bin ins Theater gegangen und musste auf die Bühne“.

Saallicht an! Geschocktes Gemurmel – der Horror!

Dabei fing alles noch harmlos an. Eine Schauspielerin lag auf der berühmten Couch und erzählte in die Kamera, dass es schon immer ihr Traum gewesen sei, auf einer Bühne zu stehen; besser noch: den berühmten Sigmund Freud zu spielen. Jetzt erfülle sich dieser Traum (sie zog sich um: Bart, Brille, Zigarre) und um zu beweisen, wie gut sie die Rolle verkörpern könne, sollten jetzt im Publikum mal alle aufstehen, weil sie Leute bräuchte, deren Träume sie analysieren könne. Saallicht an! Geschocktes Gemurmel – der Horror! Einige, unsanft erwacht, fanden sich nun in ihrem schlimmsten Albtraum wieder (siehe oben). Männer könnten sich wieder setzen, fuhr sie fort, schließlich seien die Patientinnen von Freud meistens Frauen gewesen. Die Hälfte des Saals plumpste erleichtert zurück in den Sitz. Ich stand weit hinten und schwor, mich auf keinen Fall zu melden, überlegte aber gleichzeitig, welchen Traum ich erzählen könnte. Und während ich davon zu träumen begann, einmal in der Theaterstadt Wien auf der Bühne zu stehen und womöglich im Anschluss berühmt zu werden (you never know) – kam mir und allen anderen eine Zuschauerin zuvor und drängelte auf die Bühne. Also wieder hinsetzen mit dem Gefühl der verpassten Chance. Narzisstische Kränkung!

Der Fortlauf des Abends bezog nun sein Vergnügen aus dem Umstand, dass sich die junge Freiwillige auf der Bühne so bewegte, als sei sie in einem Traum gefangen. Die Schauspielerin erklärte nämlich die Zuschauerin kurzerhand zu Freud, übergab ihr die notwendigen Requisiten (Bart, Brille, Zigarre) und das Freud’sche Behandlungszimmer kam auf die Bühne gefahren, in dem die Zuschauerin nun hereinstürzende Charaktere empfangen musste. Jetzt schlief im Saal niemand mehr. Alle waren nun gespannt, wie die Zuschauerin ihre Rolle meistern würde. Ein Freund von „Siggi“ kam herein, dankte ihm für den „Tipp mit dem Kokain“ und weihte ihn in die Kunst des Sniffings ein. Freuds Ehefrau nahm ihm ein Keuschheitsgelübde ab, nachdem sie sich über seinen ungebrochenen Sexualtrieb beschwert hatte. Ein anderer Freund fiel in Ohnmacht, Freud sollte ihn wiederbeleben. Das Publikum amüsierte sich natürlich wie verrückt über diese Einlagen – es war, als sähe man der Zuschauerin zu, während sie träumte, oder als wäre die Bühne wirklich und wahrhaftig der Ort des Traums geworden, was natürlich eine sehr schöne Theatermetapher ist.

Auch die Zuschauerin hatte einen so offensichtlichen Spaß daran, ihren Traum vom Bühnenstar zu leben, dass sie am Ende gar nicht mehr erwachen wollte. Nächstes Mal setze ich mich jedenfalls ganz weit nach vorne.

Die Traumdeutung von Sigmund Freud Regie: Dead Centre Akademietheater Wien

Theatertagebuch

Eva Marburg studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Berlin und New York. Nach Arbeiten als freie Dramaturgin und Autorin am Theater, studierte sie Kulturjournalismus an der UdK in Berlin und ist seit 2018 Fachredakteurin für Theater bei SWR2. Für den Freitag schreibt sie regelmäßig das Theatertagebuch.

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