Stadt in der Wüste: Der lange Schlauch des Prinzen
Saudi-Arabien 2030 soll die Mega-City fertig sein: Dann wird sich „The Line“ 170 Kilometer durch den Wüstensand fressen. Um Investoren nicht zu verprellen, sollen hier liberalere Gesetze gelten als im Rest des Königreichs. Doch es gibt eine Schattenseite
Soll nicht auf dem Mars, sondern gegenüber der Sinai-Halbinsel entstehen: Modell von „Neom – The Line“
Foto: ABACAPRESS/Imago Images
In Saudi-Arabien soll eine 170 Kilometer lange Stadt entstehen – in Form einer gigantischen ungekochten Spaghettinudel. Am nordwestlichsten Fleckchen des Königreichs gelegen, soll die Stadt eine neue Heimat für neun Millionen Menschen werden. Ein Mega-Vorhaben. Deutschlands Neubaupolitik wirkt oft kümmerlich. Selbst wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) inzwischen sagt, dass 20 neue Stadtteile gebaut werden müssten: Mit den Projekten in anderen Weltregionen lässt sich das nicht im Ansatz vergleichen. Wie verlockend klingt es da, wirklich für die grüne Wiese zu planen – und nicht nur neue Stadtviertel, sondern gleich eine ganze Region aus dem Boden zu stampfen? Gegenüber der Sinai-Halbinsel in der Provinz Tabuk gibt es zwar keine grüne
der Sinai-Halbinsel in der Provinz Tabuk gibt es zwar keine grünen Wiesen. Vielmehr erinnert die Gegend an eine Marslandschaft, mit ihrem rötlich schimmernden Sand und ihren Gesteinsbrocken. Aber anders als auf dem Nachbarplaneten gibt es das Rote Meer.„The Line“ heißt das Projekt offiziell. Der saudische Staatsfonds ist der Haupteigentümer. 500 Meter hohe Wolkenkratzer sollen sich auf einem Streifen, der gerade einmal 200 Meter breit, aber über 170 Kilometer lang ist, durch die Wüste ziehen.Eine Stadt als unendlicher Schlauch.„Maximal nachhaltig“ soll sie sein, versprechen die Planer. Und emissionsfrei, trotz riesigem Energiebedarf! The Line soll ein Prototyp für jede denkbare Modernisierungsform sein, schon beim Bau: Jeder Gebäudeteil erhält einen digitalen Zwilling. Jedes Detail wird bereits bei der Planung digital zentral hinterlegt, passend gefertigt. 2030 soll alles fertig sein.„Neom“: So heißt das übergeordnetet Megaprojekt, zu dem auch eine schwimmende Stadt und ein Skiegebiet gehörenSmart soll die Stadt werden, und in den Werbeprospekten meint das vor allem die Bewohnbarkeit. The Line ist nach außen verspiegelt – und dennoch muss enormer Aufwand betrieben werden, um die Stadt bewohnbar zu halten. Denn gegenüber von Scharm asch-Schaich ist es zwar die meiste Zeit des Tages über trocken. Aber eben auch heiß: 40 Grad Außentemperatur sind hier keine Seltenheit – und Klimaanlagen für neun Millionen Menschen müssen intelligent gesteuert werden. Auch Wasser muss die Stadt auf andere Weise gewinnen als die meisten anderen Großstädte der Welt: Entsalzungsanlagen in ganz großem Stil sollen das ermöglichen.Zugleich sollen die Wege kurz werden: Alles Nötige soll eigentlich fußläufig erreichbar sein – Autos sind in The Line nicht vorgesehen, auch keine Elektro- oder Wasserstofffahrzeuge. Damit die Bewohner sich dennoch fortbewegen können, soll ein Hochgeschwindigkeitszugnetz an der Stadt entlangführen: „The Spine“, das Rückgrat. 20 Minuten soll die Reise vom einen zum anderen Ende gerade einmal dauern, so der Plan der Projektentwickler. Und die Bahnlinie soll darüber hinausführen, in andere Teile des Landes und zu weiteren Teilen des Megaprojekts „Neom“.Zu dem gehört unter anderem ein Skigebiet, Trojena genannt, das am Berg Dschabal al-Lauz liegt. 2.600 Meter ist der hoch – im Winter kann es dort sogar manchmal natürlich schneien. Oder die Schwimmstadt Oxagon, die teilweise im Roten Meer liegen soll. Und das Tourismus-Resort Sindalah, ebenfalls am Roten Meer. Natürlich bekommt das Neom-Projekt auch einen eigenen Flughafen. Und der hat einen entscheidenden Vorteil, meinen die Projektplaner: Von nahezu jedem Punkt auf der Erde sei der Ort in acht Stunden oder weniger Flugzeit zu erreichen.Anreise mit ÜberschallfliegernUnd wem das immer noch zu lang ist, für den sollen bald wieder Überschalljets zur Verfügung stehen: Der hinter The Line stehende Neom-Investment-Fonds hat vor wenigen Tagen in einen US-Überschall-Flugzeugbauer mit dem schönen Namen „Boom Supersonic“ investiert. Natürlich sollen auch die Boom-Flieger wiederum mit überaus grünem Anstrich betrieben werden: mit sogenannten Sustainable Aviation Fuels, nachhaltigem, synthetisch erzeugtem Flugbenzin. Betrieben wiederum von einer eigens dafür geschaffenen Fluggesellschaft. Das Neom-Projekt wird also trotz aller Effizienzversprechen einen enormen Energiebedarf haben.Die notwendigen Elektrolyseure für Flugbenzin, Megacity und Wasserstoffexport und auch die Linealstadt sollen mittels Wind- und Solarenergiekraftwerken gigantischer Größenordnungen mit Strom versorgt werden. Allein die chinesische Envision Energy liefert 171 Windkraftanlagen – die Gesamtkapazität soll 1,67 Gigawatt, also gut 1,5 Kernkraftwerksblöcke betragen. Und die Solarparks sind teilweise noch größer geplant: Fast drei Gigawatt soll allein eine Anlage für die Wasserstoffgewinnung beitragen. Denn wenn es außer Öl eins gibt, woran Saudi-Arabien wirklich reich ist, dann ist es Sonne. Was nicht direkt verbraucht wird, wird zu grünem Wasserstoff.Alles vom Feinsten, reueloser, nachhaltiger Konsum und Lebensfreude: Die Superlative der Projektverantwortlichen zeichnen ein Bild, das nichts bis wenig damit zu tun hat, wie Saudi-Arabien in westlichen Medien üblicherweise gesehen wird. Wer aber ins Business-Netzwerk Linkedin schaut, sieht schnell, wie viele Europäer für die Neom-Projekte arbeiten. 6,3 Millionen Ausländer sind in Saudi-Arabien beschäftigt. International ackern noch viel mehr für das Königreich: Ein wesentlicher Teil der für Planung und Durchführung des Riesenprojekts Verantwortlichen kommt aus Europa, Asien und den USA. Darunter auch westliche Social-Media-Experten, die ihrer heimischen Öffentlichkeit das Projekt „Neom – The Line“ schmackhaft machen sollen. Sie leisten ganze Arbeit.Denn wer sich zu dem Projekt informieren will, muss sich zuerst durch Hochglanzmaterial wühlen, bevor kritischere Beiträge kommen. Weniger schöne Nachrichten wie die, dass etwa alteingesessene Beduinen gewaltsam für The Line vertrieben wurden, sind aber eh kein reichweitenstarker Youtube- und Instagram-Content. Doch nicht nur bei der PR für das Neom-Projekt und damit für die Trockenspaghettistadt The Line spielen Europäer eine wichtige Rolle. Deutsche Unternehmen liefern etwa Materialien für den Tiefbau. Die Tunnel allerdings werden von Unternehmen aus Asien gebaut. Doch die Geschäftemacher könnten ein blaues Wunder erleben. Denn sie machen sich vollständig abhängig vom despotischen Willen des saudischen Herrschers.Die Vision des KronprinzenDeutschland will gerne vielfältig von Saudi-Arabiens Großprojekten profitieren. 2021 wurde das zweite „Wasserstoffdiplomatiebüro“ in dem Land eröffnet, als Teil der „Energieaußenpolitik“ der Bundesrepublik. Dabei geht es um beide Richtungen: den Aufbau von Infrastruktur zur Herstellung von Wasserstoff, bei dem deutsche Unternehmen direkt profitieren. Und den für später angestrebten Import von Wasserstoff, der statt Erdgas dann die nötige Energie für die deutsche Wirtschaft und die Heizkraftwerke liefern soll. Bis heute ist das Königreich Saudi-Arabien vor allem ein Öl-Rentierstaat. 85 Prozent der Warenexporte basierten 2021 auf dem Ölreichtum des Landes. Der seit 2017 regierende Kronprinz Mohammed bin Salman verfolgt seine „Vision 2030“. Dazu gehört eine Diversifizierungsstrategie, die eine Perspektive nach dem Ende des Ölreichtums bescheren soll. Die Königsfamilie Saud beherrscht das Land mit einer Mischung aus technischer Modernisierung und Traditionspflege – etwa bei der Todesstrafe. Neom soll Mohammed bin Salmans Vorzeigeprojekt werden. Ein radikaler Schritt – auch für das Königreich.Das gesamte Gebiet soll nicht unter die strengen, religiös begründeten Gesetze fallen. Es soll eigene Gesetze bekommen, Gesetze, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr viel weniger restriktiv ausfallen dürften als im Rest des Königreichs, um Ausländer nicht abzuschrecken. Und es soll eine Sonderwirtschaftszone sein. Das Vorhaben ist eine gigantische Wette mit enormen Kosten in dreistelliger Milliardenhöhe. Das Wunder am Rande der Wüsten, kann das wirklich funktionieren? In einem Land wie Saudi-Arabien – bei diesen klimatischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen?Kritiker bezweifeln, dass Saudi-Arabien mit seiner linealförmigen Megacity und dem Gesamtprojekt Neom Erfolg haben kann. Bedenken äußert etwa der Mathematiker Rafael Prieto-Curiel. Der Mobilitätsforscher, der derzeit in Wien arbeitet, hält nichts von der langen Linie. „Eine neue, nachhaltige Stadt muss nicht von Beginn an neu gebaut werden“, sagt er dem Freitag. „Barcelona etwa oder Paris, die adaptieren Strategien, um die Zahl der Autos und Autofahrten zu reduzieren und die Stadt nachhaltiger zu machen.“ Schon mathematisch würde das Stadtmodell wenig Sinn ergeben, rechnet er vor.Freiwillige ÜberwachungDie Stadtplaner hätten vorgesehen, dass alles Notwendige in fünf Minuten Gehdistanz zu erledigen sein müsse. Bei 500 Meter hohen Gebäuden sei aber auch die Aufzugfahrt mit einzurechnen – und die dauere dann nun einmal. Auch die Idee, dass Bewohner immer nur kurze Wege zurücklegen, sei unrealistisch. Das Großstadtleben bestehe nicht nur aus der unmittelbaren Nachbarschaft, ob Freizeit oder Beruf. Und damit müssten die Wege länger und der Transport komplexer gestaltet werden. Wäre jeder Einwohner bereit, im Durchschnitt maximal 1,3 Kilometer zur nächsten Haltestelle zu laufen, bräuchte The Line 84 Haltestellen für The Spine. Das allerdings würde auch heißen: Bummelzug statt Hochgeschwindigkeit.Prieto-Curiel hat aber eine noch viel grundsätzlichere Kritik an dem Vorhaben: „Städte müssen die Fähigkeit zur Adaption an sich verändernde Gegebenheiten haben“, sagt der Mathematiker, „angesichts von demografischem, Klimawandel und der Möglichkeit von Naturkatastrophen.“ Doch adaptionsfähig dürfte The Line, einmal fertiggestellt, kaum sein.Placeholder image-1Und auch bei der technischen Schlauheit sorgt die angebliche „Smart City“ für Sorgenfalten. Der maximale Einsatz von Sensorik und angewandter Künstlicher Intelligenz soll sicherstellen, dass viele Probleme bisheriger Städte der Vergangenheit angehören. Zugleich aber sind sie eine perfekte Überwachungswelt. Auf Teile davon sollen die Stadtbewohner sogar selbst Einfluss nehmen können, mit einer Einwilligungsverwaltung namens M3LD: kommerzielle Datenverwertung nur nach eigener Zustimmung. Aber die Bewohner sollen für Daten auch bezahlt werden. „Ohne Vertrauen gibt es keine Daten. Und ohne Daten keinen Wert“, lässt sich Joseph Bradley, CEO von Neom Tech & Digital, zitieren.Und genau hier könnte auch jenseits der Daten das größte Problem für The Line und das noch größere Projekt Neom lauern. Denn die private Energiewunderwelt ist vor allem vom Wohlwollen der Herrscher in Riad abhängig. Sich darauf zu verlassen, könnte tödlich enden. Neoms Paradies ist ein Lockangebot für die Welt – aber eben auch ein Lock-in-Angebot. 2024 will die Neom-Investmentgesellschaft an die Börse gehen. Spätestens dann wird sich zeigen, wie groß der Glaube an die Spaghettistadt wirklich ist.
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