Auf die Katastrophe folgt die Katastrophe. Am Wochenende sind rund 800 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, nun will sich die Europäische Union noch weiter abschotten. Schon der Zehn-Punkte-Plan der EU-Kommission ließ nichts Gutes erahnen. Was die Regierungschefs am Donnerstagabend beschlossen haben, unterscheidet sich nur geringfügig und wird die Probleme nicht lösen, vermutlich sogar verschärfen.
Das liegt an der verqueren Sicht der europäischen Regierungschefs: Sie wollen die Situation der Flüchtlinge gar nicht nachzuvollziehen. Sie wollen bloß die Bilder von toten Menschen vermeiden – und gleichzeitig die Festung Europa erhalten. Aus dieser Perspektive sind die beschlossenen Maßnahmen durchaus verständlich: Die EU gibt mehr Geld an die Grenzüberwachungsagentur Frontex, will die Boote der Fluchthelfer zerstören und mit afrikanischen Ländern zusammenarbeiten, um die Flüchtlinge so früh wie möglich von der Überfahrt abzuhalten. Praktisch macht das alles die Flucht aber nur gefährlicher und teurer. Darunter leiden die Flüchtlinge.
"Gipfel der Schande"
Dass so viele Menschen in marode und überfüllte Boote steigen, liegt daran, dass Europa alle Landwege dicht gemacht hat – mit meterhohen Zäunen. Die Flüchtlinge sehen keine Alternative zu der riskanten Überfahrt. Und dann stellt sich der EU-Ratspräsident Donald Tusk nach dem Krisengipfel hin und sagt: „Wir sind für die Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer nicht verantwortlich, aber wir müssen mit den schlimmsten Konsequenzen fertig werden.“ Was er damit wohl sagen will? Dass die EU-Staaten am meisten leiden?
Was die Regierungschefs beschlossen haben, ist peinlich. Pro Asyl spricht von einem „Gipfel der Schande“. In vielen Medien ist zu lesen, es gebe mehr Geld für die Seenotrettung. In den offiziellen Beschlüssen ist das nicht so eindeutig. Finanziell aufgestockt werden die Seemissionen Triton und Poseidon der Grenzüberwachungsagentur Frontex, „so dass die Such- und Rettungsmöglichkeiten im Rahmen des Frontex-Mandats verbessert werden können“. Das Mandat ist aber eindeutig: Priorität hat die Kontrolle der Grenzen. Das hat Frontex-Chef Gil Arias-Fernández in einem Interview mit dem Tagesspiegel auch deutlich gesagt: „Frontex ist für die Überwachung der Grenzen zuständig und hat nicht den Auftrag, Flüchtlinge zu retten.“
Den Bock zum Gärtner gemacht
Jetzt soll der Bock also zum Gärtner gemacht werden. Das kann nicht klappen, selbst wenn Frontex offiziell ein neues Ziel bekäme. Wie sollen Grenzkontrolleure von heute auf morgen zu Seenotrettern werden? Die ganze Frontex-Struktur ist auf die Abschottung ausgerichtet, die Mitarbeiter haben die Ziele verinnerlicht. Hinzu kommt, dass Frontex vor der europäischen Küste patrouilliert, viele Boote aber schon vor der afrikanischen Küste in Seenot geraten.
Nötig wäre eine zivile Seenotrettung. Italien hatte vor rund zwei Jahren die Mission „Mare Nostrum“ gestartet, doch die EU-Staaten wollten nicht zahlen, im vergangenen Herbst wurde sie eingestellt. Nun gibt es keine Neuauflage. Dabei sterben so viele Menschen wie nie zuvor.
Boote zerstören, um zu helfen?
Die Europäische Union hat dafür einen Schuldigen gefunden: die Fluchthelfer, die immer nur als „Schlepper“ bezeichnet werden. Ihre Schiffe sollen künftig zerstört werden, bevor sie in See stechen. Das dürfte schon rechtlich schwierig sein: Dürfen Polizisten oder Soldaten aus der EU in nordafrikanischen Ländern einfach Schiffe zerstören? Vor allem aber hilft es den Flüchtlingen nicht, es schadet ihnen. Schließlich werden dann die Überfahrten noch teurer, werden möglicherweise noch schlechtere Boote genutzt.
Den Regierungschefs sind noch weitere Maßnahmen gegen Flüchtlinge eingefallen: Sie haben beschlossen, afrikanische Länder „verstärkt bei der Überwachung und Kontrolle ihrer Landgrenzen und der Landwege zu unterstützen“, europäische Beamte zu entsenden, die dort „Informationen über Migrationsströme sammeln“ und „ein neues Rückkehrprogramm für die rasche Rückführung illegaler Migranten aus den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen aufzuerlegen“. Die Regierungschefs haben es sogar für nötig gehalten, darauf hinzuweisen, dass das Rückkehrprogramm „unter Achtung des Rechts, Asyl zu beantragen“ stattfinden werde. Wer hätte daran gezweifelt? Es geht ihnen doch nur um das Wohl der Flüchtlinge, oder?
Kommentare 8
lieber felix,
als anregung, weil ich nicht weiß, ob und inwieweit das bis hierher durchgedrungen ist: eine ziemlich genaue zusammenfassung hat der bremer journalist und autor nils ehrenberg unter „Friede, Freude, Frontex?“ für das magazin mare abgeliefert. eines seiner erkenntnisse ist, dass die eu-staaten der migration ratlos gegenüber stünden: „Ihr Heil suchen sie im ‘Outsourcing‘ eigener Verantwortung an eine supranationale Einrichtung, die die Außengrenzen undurchlässig machen soll – und sich wachsender Kritik erwehren muss.“ außengrenze(n) und ihre absicherung wäre in dieser ratlosigkeit der kleineste gemeinsame nenner.
weiterhin empfehle ich die dossiers von arte „Festung Europa“ und „Lampedusa: Welche Konsequenzen zieht die EU?“.
schließlich eine kleine anregung zur wahrnehmung: frontext operiert oder patroulliert nicht selbst, sondern ist koordinierungsstelle und strategisches zentrum. das ergibt sich alleine bereits aus der sie gründenen verordnung (EG) 2007/2004 „zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union“. ausführend sind die nationalen marinen wie etwa in der jetzigen operation triton, die ihrerseits von einem spezifischen ratsbeschluss in marsch gesetzt werden.
best
Frontex-Mitarbeiter patrouillieren durchaus – allerdings zusammen mit den nationalen Grenzüberwachern.
lieber felix,
um es knapp und klar zu sagen: es gibt für die eu keine lösung des problems.
es ist zynisch, von mechanischen verhältnissen zu reden. aber in wahrheit ist es nicht anders als beim wetter: die luft strömt vom hoch zum tief. kontinental: die menschen migrieren vom elend in die wohlhabenden länder. das ist in amerika genauso wie in eurafrika.
wenn die regierenden wirklich etwas gegen das problem der bootsflüchtlinge tun wollten, müssten sie versuchen, die lebensqualitäten in den herkunftsländern denjenigen in den zielländern anzugleichen. doch daran ist kein gedanke.
staaten sind so gestrickt, dass sie nur für das wohl des eigenen gemeinwesens tätig sind, aber auch das nur sehr stark eingeschränkt.
Am allerbesten ist ja der Vorschlag, Boote zu zerstören ... welche Hirnrissigkeit hat sich bei Politikern und verbreitenden Medienmachern eingenistet? Nächstens kommt der Vorschlag, die afrikanische Küste zum Mittelmeer ständig zu vernebeln.
Uns hamm'se Politiker vorgesetzt, igitt igitt.
Die internationalen Firmen werden weiterhin Afrika aussaugen und sollte doch mal ein Dollar über blieben, dann holt ihn sich der IWF zur symbolischen Befriedung Jahrzehnte alter Schuldscheine.
Daran wird sich nichts ändern, also wird sich auch an der strukturbedingten Armut Afrikas nichts ändern.
Wenn wir keine Ertrinkenden mehr sehen wollen, gibt es immer auch den australischen Weg: Die Frontex wird im Mittelmeer zu einer quasi-militärischen Einheit, fängt alle Boote ab, und über die Zahl der Flüchtlinge und deren Verbleib wird eine Nachrichtensperre verhängt. Natürlich stehen im Mittelmeer nicht die ozeanischen Weiten wie rund um Australien zur Verfügung, aber bei aller Unmenschlichkeit, die sich in Europa mehr und mehr breit macht, bin ich sicher, dass unsere Technokraten Lösungen finden werden. Das war doch schon immer so, wenn man sie nur machen lässt.
Und im Übrigen ist es natürlich genau so wie auch mit dem BND und der NSA, weg unbequeme Fragen stellt, bekommt unbequeme Antworten. Schlechte Politik führt zu schlechten Lösungen und zu immer neuen Folgeproblemen. Gutes zu tun und Gutes zu fordern, ist kein Selbstzweck.
Die EU-Heuchler sind beim Thema "Flüchtlinge auf dem Mittelmeer" an ihrer schwächsten Stelle getroffen: Gefühle! Konkret, Mitgefühl, Mitleid und Angst. Damit können sie überhaupt nicht umgehen. Sie sitzen in der Falle, vor laufender Kamera, vor den Augen der Welt. Sie müssen Hilfsbereitschaft heucheln, um nicht als eiskalte Monster gesehen zu werden. Sie haben nur technokratische Antworten auf emotionale Probleme. Sie scheitern auf der ganzen Linie, zwangsweise. Diese farbigen, elenden Menschen sind ihnen in Wahrheit völlig gleichgütig, sie wollen sie nicht. Sie haben Angst davor, sie in die EU zu lassen, denn sie befürchten rassistische Unruhen, zu recht. Die gegenwärtige Situation muss sich zwangsläufig verschärfen und es ist damit zu rechnen, dass eines Tages geschossen werden wird. Alle Herkunftsländer dieser Elenden sind von den Westlern in den letzten 100 Jahren ruiniert worden, bis auf den heutigen Tag. Insbesondere der Atomstaat Frankreich, mit seinen 52 AKW EDF braucht z.B. das Uran aus Mali & Co. Dafür sorgt französisches Militär. Die alten Kolonialherren sind bis heute die gleiche Sippschaft geblieben. Front-Ex hat die Dezimierung der Flüchtlinge zum Ziel. Besonders aus der Fassung bringt die christlichen Heuchler die Tatsachen, dass die Aufstände nicht mehr von politischen Ideologien ausgehen, sondern von ethischen Wahrheiten.
Die Anstalt: Frontex und die Festung Europa - Teil 2/2 ...
lieber felix, wenn sie behaupten „Frontex-Mitarbeiter patrouillieren durchaus“, dann setzt sich ein wahrnehmungsfehler fort: die grenzsicherung europas ist militärisch strukturiert, frontex erfüllt darin die rolle eines stabes. „Frontex-Mitarbeiter“ sind nichts anderes als verbindungsleute des stabes und erfüllen die aufgabe des controllings im feld. jede relativierung auch in der darstellung in dieser hinsicht ist, mit verlaub, ein sargnagel mehr.