Filmfestival in Venedig: Von Löwen und Vampiren

Kino Fantastisches dominiert die erste Hälfte der Mostra in Venedig, mit Blutsaugern, Geistern und künstlichen Menschen
Ausgabe 36/2023
Emma Stone gibt in Yorgos Lanthimos' „Poor Thing“ ein feministisches Update von Frankensteins Monster
Emma Stone gibt in Yorgos Lanthimos' „Poor Thing“ ein feministisches Update von Frankensteins Monster

Foto: Imago/Picturelux

Vermutlich verschwimmen in Venedig die Verhältnisse mehr als anderswo, ist die Membran zwischen Realem und Imaginiertem etwas durchlässiger. Zumal wenn das Kino seine Illusionsmaschine anwirft, sei es mit parapsychologischen Phänomenen in Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen oder Gustav von Aschenbachs Obsession mit dem jungen Tadzio in Luchino Viscontis Tod in Venedig. Was ist wahrhaftig, was Einbildung? Auch abseits der Leinwand reibt man sich in diesen Tagen verwundert die Augen, wenn man am ehrwürdigen Hotel des Bains vorbeikommt, just jener Luxusherberge, in der Visconti 1970 Thomas Manns Novelle verfilmte und die seit Jahren hinter hohen Bauzäunen versteckt verfällt – an den lauen Sommerabenden des Festivals ist die Fassade in betörendem Rot erleuchtet, vor dem Eingang bilden sich lange Menschenschlangen. Für kurze Zeit ist der morbide Prachtbau aus seinem Dornröschenschlaf erwacht und zur angesagtesten Partyadresse der Lagunenstadt reanimiert. Hier wird gefeiert, trotz oder gerade wegen Inflation, Krieg und der verblassten Erinnerungen an eine Pandemie, die auch das Festival drei Jahre in Folge beeinträchtigt hatte.

Der morbide Prachtbau spiegelt damit wider, was auf der Leinwand der 80. Jubiläumsausgabe des weltweit ältesten Filmfestivals zu sehen ist, die von allerlei Untoten und Blutsaugern, Geistern und künstlichen Menschen bevölkert ist. Am eindrücklichsten versteht Yorgos Lanthimos diese Tropen zu nutzen. In Poor Things hat ein Wissenschaftler einer Toten das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingepflanzt und damit eine Kreatur geschaffen, die ohne jeden Filter mit der Welt agiert und sie sich erst Schritt für Schritt aneignet. Emma Stone, die den brillant fotografierten, mit surrealen Einfällen überbordenden Film mitproduziert hat, spielt diese Bella als absurd-komisches, feministisches Update des Frankenstein-Mythos. Poor Things ist damit ein früher Favorit für die Preisverleihung am Samstag.

Auch andere Beiträge nutzen Motive des Fantastischen und Unheimlichen, um von Selbstermächtigungen und Exorzismen zu erzählen. In Pablo Larraíns Schwarz-Weiß-Farce El conde geistert der chilenische Diktator Pinochet als Vampir durch die Geschichte – eine cineastische Austreibung nationaler Traumata und Tabus, die eher zynisch als bissig-böse ausfällt. Der Franzose Adrien Beau macht in Vourdalak aus Tolstois Schauernovelle Die Familie des Wurdalak eine Blutsaugermär mit handgebastelten Puppen, die genüsslich das Patriarchat zu Grabe trägt.

Der Streik in Hollywood wirkt bis nach Venedig

Recht ausgestorben ist in diesem Jahr auch der Rote Teppich. Vor allem die US-amerikanischen Stars bleiben wegen des Streiks in Hollywood dem Lido fern. Die Filmbiografie über Leonard Bernstein, Maestro, musste ohne große Namen Premiere feiern. Bradley Cooper kam nicht, weil seine Doppelfunktion als Regisseur und Hauptdarsteller kaum voneinander zu trennen gewesen wäre. Wenige Filme hatten Ausnahmen mit der Gewerkschaft verhandelt, Adam Driver etwa konnte Michael Manns Ferrari, in dem er den Ex-Rennfahrer und Gründer der Automarke spielt, persönlich vorstellen. Dafür waren europäische Schauspieler*innen wie Isabelle Huppert und Pierfrancesco Favino und nicht zuletzt die Regisseure und Regisseurinnen selbst umso begehrter bei Fotografen und Fans.

Überpräsent war dagegen der Streamingdienst Netflix, der in Cannes geschasst, hier gleich mit fünf Produktionen prominent eingeladen wurde. Neben Maestro und El conde liefen David Finchers konventionell rasant inszenierter Thriller The Killer über einen Auftragsmörder sowie mit The Wonderful Story of Henry Sugar ein neuer Wes Anderson, eine 40 Minuten kurze, starbesetzte Stilübung nach einer Geschichte von Roald Dahl. Auch der Abschlussfilm am Samstag, J. A. Bayonas Society of the Snow über den Flugzeugabsturz eines Rugbyteams in den Anden 1972, ist Content der Plattform. Die Festivalbesucher scheint es nicht weiter zu stören, das große „N“ im Vorspann sorgt allenfalls vereinzelt für leises Murren.

Ebenso wenig zimperlich waren Festivalleiter Alberto Barbera und sein Auswahlteam bei der Einladung dreier Regisseure, denen Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden. Der inzwischen 90-jährige Roman Polanski, der im Schweizer Exil lebt, drehte dort in einem Alpenhotel mit The Palace eine Gesellschaftssatire, angesiedelt am Silvesterabend des Millenniums, die sich als erschreckend humorloser, auf hundert Minuten Länge gezogener Altherrenwitz entpuppt. Luc Besson liefert mit Dogman einen Thriller über einen jungen Mörder in Frauenkleidern, der die Gesellschaft seiner Hunde den Menschen vorzieht. Eine gendernonkonforme Hauptfigur, die lange am Klischee entlangschrammt, dann aber doch zu einer gewissen Glaubwürdigkeit findet. Und Woody Allen, 87, drehte mit der Krimibeziehungskomödie Coup de chance seinen 50. Film und erstmals in französischer Sprache. Nach nur wenigen Minuten erweisen sich Allens Blick auf Zwischenmenschliches und seine ironischen Dialoge als erstaunlich kompatibel mit der Welt der Pariser Stadtgesellschaft.

Hauptthema beim Filmfestival am Lido: Männliche Egos

Das große Thema der ersten Festivalhälfte waren Männer auf Egotrips, zum Beispiel der dänische Western Bastarden mit Mads Mikkelsen als Pionier, der wie besessen eine als unwirtlich geltende Region landwirtschaftlich nutzbar machen will und sich dabei mit einem psychopathischen Provinzbaron anlegt. Maestro interessiert sich weniger für die Musik und was den Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein ausmacht als für sein Privatleben, das Hin und Her in seiner Ehe mit Felicia, die immer wieder von seinen Affären mit jungen Männern und seinem Geltungsbedürfnis auf die Probe gestellt wird. Auch in El conde und Ferrari stehen egozentrische Männer in Machtpositionen im Mittelpunkt und die Filme kreisen, bei allen spektakulären Szenen und Schauwerten, letztlich um die Befindlichkeiten und Entwicklungen ihrer Helden. In David Finchers The Killer spricht der titelgebende Auftragsmörder (Michael Fassbender) gleich selbst den Erzählkommentar des Films, indem er Mantren von Selbstdisziplin und Stoismus wiederholt. Empathie wäre tödlich.

Multiversen finden sich in zwei bemerkenswerten Filmen, die raffiniert und vertrackt existenzielle Fragen aufwerfen. Timm Kröger schickt in Die Theorie von Allem einen ambitionierten Doktoranden im Jahr 1962 auf einen Physikerkongress in die Schweizer Alpen, wo er einer metaphysischen Verschwörung auf die Spur zu kommen glaubt. Kröger inszeniert seinen Thriller als Vexierspiel in Schwarz-Weiß-Bildern und einem Score, der mit seinen Leitmotiven große Emotionen evoziert und auf die Filmgeschichte referiert. Bertrand Bonello verbindet in La Bête die dunkelromantische Novelle Das Tier im Dschungel von Henry James mit einer Dystopie, in der künstliche Intelligenz die Macht übernommen hat und Menschen in verschiedene frühere Inkarnationen und Realitäten reisen, um Traumata auszulöschen und damit ihr Gefühlsleben zu neutralisieren.

Eine irritierende Ambivalenz strahlt Sofia Coppolas Wettbewerbsbeitrag Priscilla aus, das Porträt über Elvis Presleys Ehefrau, auf Grundlage ihrer Memoiren und von ihr produziert. Der Film beginnt 1959 in der westdeutschen Provinz mit der 14-jährigen Priscilla, deren Vater als Militär in Wiesbaden stationiert ist. Coppola zeigt in ihrer düster-funkelnden Studie um Starkult und Ausbeutung, wie sie dem deutlich älteren Rockstar zugeführt wird und er sie mit seinem jungenhaften Charisma für sich einnimmt, als eine Mischung aus wahr gewordenem Mädchentraum und Übergriff, auch wenn es zunächst scheinbar ohne sexuelle Absichten geschieht.

Wie der Wissenschaftler in Poor Things macht auch Elvis Priscilla zu seinem Geschöpf, formt die Kindfrau nach seinem Willen. Beide Filme erzählen letztlich von der Emanzipation zum selbstbestimmten Menschen. Am Ende gelingt es Priscilla, den goldenen Käfig hinter sich zu lassen. Das Defizit, nicht die Rechte an Elvis’ Songs zu haben, kehrt der Film im letzten Bild ins Gegenteil. Da erklingt die große Trennungshymne I Will Always Love You, geschrieben und gesungen von Dolly Parton. Den Song hatte Elvis in den frühen Siebzigern selbst covern wollen, alle Rechte hätten an ihn gehen sollen. Die Countrysängerin hatte dem King damals einen Korb gegeben und damit die Kontrolle behalten.

Die 80. Filmfestspiele Venedig laufen noch bis zum 9. September 2023

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