Filmfestspiele Venedig: Goldener Löwe für Laura Poitras

Kino Erst zum zweiten Mal in 90 Jahren Festivalgeschichte gewinnt ein Dokumentarfilm den Goldenen Löwen in Venedig. Interessante Entdeckungen lassen vor allem in den Nebensektionen machen
Ausgabe 37/2022
Laura Poitras mit dem Goldenen Löwen
Laura Poitras mit dem Goldenen Löwen

Foto: Vittorio Zunino/Getty Images

Bei der Eröffnung der Filmfestspiele in Venedig hatte Julianne Moore als Jurypräsidentin noch moniert, über die Zukunft des Kinos werde zu oft geschäftsorientiert diskutiert – und nicht über Film als Kunst. Die Amerikanerin betonte auch, es sei „höchst erfreulich, Filme in anderen Sprachen zu sehen“. Letzteren Anspruch lösten die Preisentscheidungen der Jury vergangenen Samstag dann allerdings nur bedingt ein. Am Ende gewannen überproportional viele angloamerikanische Filme und bekannte Namen. Das hatte den Beigeschmack, die Mostra zu einer Art Vorauswahl fürs Oscarrennen zu degradieren, statt die Vielfalt des Weltkinos zu würdigen.

Der Goldene Löwe ging mit Laura Poitras’ All the Beauty and the Bloodshed überraschend an einen Dokumentarfilm, zum zweiten Mal in 90 Jahren Festivalgeschichte, und nach Chloé Zhao (Nomadland) und Audrey Diwan (Das Ereignis) zum dritten Mal in Folge an eine Frau. Poitras porträtiert in ihrem Film den Kampf der US-Fotografin Nan Goldin und einer Gruppe Aktivisten gegen die Milliardärsfamilie Sackler, die mit ihren Opioidmedikamenten Hunderttausende Todesopfer in Kauf nahm. Auf Augenhöhe bezieht sie dabei Goldins Schaffen und Aktivismus aufeinander, verwebt das Gestern mit der Gegenwart und zeigt, wie untrennbar bei Goldin Leben und Werk, Politik und Kunst ineinandergreifen.

Der Große Preis der Jury ging ebenfalls an eine Dokumentarfilmerin, Alice Diop, die mit Saint Omer ihr Spielfilmdebüt inszeniert. Formal war das Drama über den Gerichtsprozess einer afrofranzösischen Kindsmörderin der radikalste Beitrag des Wettbewerbs. Diop, eine Französin, deren Eltern aus dem Senegal stammen, wirft darin mit langen Einstellungen Fragen um Gerechtigkeit, Rassismus und Mutterschaft auf.

Gleich zwei Preise gingen an die schwarzhumorige Komödie The Banshees of Inisherin über die holprige Freundschaft zweier irischer Dorfbewohner: an Martin McDonagh fürs beste Drehbuch und an Colin Farrell als bester Schauspieler. Als beste Darstellerin wurde Cate Blanchett für ihre Rolle als manipulative Dirigentin in Todd Fields komplexem Drama Tár ausgezeichnet.

Kein Weg vorbei führte an Jafar Panahis No Bears, dem herausragenden Beitrag am Ende des Festivals. Der im Juli zu sechs Jahren Haft verurteilte iranische Filmemacher drehte trotz Berufsverbot ein sehr differenziertes, von feinem Humor durchzogenes Porträt eines Regisseurs, der in einem Dorf an der Grenze zur Türkei versucht, einen Film aus der Ferne zu inszenieren. Ungewollt wird er in die Intrigen des Dorfes verwickelt. Für viele einer der Favoriten auf den Goldenen Löwen, wurde Panahi mit dem Spezialpreis der Jury vertröstet.

Die Ungewürdigten und die Entdeckungen in Venedig

Leer ging dagegen diesmal das italienische Kino aus, das mit vier Filmen vertreten war, darunter das sehr persönliche Jugenddrama L’immensità, mit dem Regisseur Emanuele Crialese auf dem Lido auch sein Coming-out als trans* Mann hatte, und Gianni Amelios Der Herr der Ameisen über den Schauprozess gegen den homosexuellen Theaterautor Aldo Braibante, der im Italien der 60er Jahre verurteilt wurde. Luca Guadagnino wurde als bester Regisseur honoriert, allerdings mit dem in den USA gedrehten Bones and All. Dessen junge Hauptdarstellerin Taylor Russell bekam die Auszeichnung als bester Schauspielnachwuchs. Ungewürdigt blieb sowohl das ohnehin unterrepräsentierte asiatische Kino als auch der Politthriller Argentinien, 1985 über den ersten Prozess gegen die Militärjunta, einer der überzeugendsten Wettbewerbsbeiträge überhaupt.

Wie schon in der ersten Festivalhälfte ließen sich auch gegen Ende vor allem in den Nebensektionen Entdeckungen machen. Der Iraner Houman Seyedi seziert in World War III, der den Hauptpreis der Orizzionti-Reihe erhielt, mit ätzendem Humor, wie ein vom Schicksal gebeutelter Arbeiter am Set eines Holocaustfilms unverhofft eine Rolle bekommt und darin die Chance seines Lebens sieht, die er um jeden Preis nutzt. Auch das ein Zeichen zwei Wochen vor den italienischen Parlamentswahlen, bei denen ein Erdrutschsieg der Postfaschisten offenbar unausweichlich scheint.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Thomas Abeltshauser

Freier Autor und Filmjournalist

Thomas Abeltshauser

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden