Der Erste, der das Sterben bemerkte, war Heinrich Riethmüller, Synchronregisseur der Walt-Disney-Filme. Als er 1967 die Liedtexte des „Dschungelbuchs“ ins Deutsche übertrug, nahm er sich beim Balu-Song „The Bare Necessities“ mehr als nur stilistische Freiheiten heraus. Statt die Refrainzeile sinngemäß mit „Such nach dem Allernötigsten, dem Einfachen und Nötigsten!“ zu übersetzen, gab er dem Text eine ganz andere Richtung: „Probier‘s mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit!“ Der Song war ein Appell. Ein Weckruf an all die Deutschen, die sich in rund 20 Jahren Wirtschaftswunder körperlich und seelisch verausgabt hatten. Und die adressierten Erschöpften verstanden sofort R
Ausgehen heute: Ende der Gemütlichkeit
Kneipensterben Mit der traditionellen Gastwirtschaft verschwindet auch der Gegenentwurf zur Hochglanz-Welt. Freizeit wird effizient, rationalisiert – und vorzeigbar. Die entstehende Lücke ist – ungemütlich

Gibt es seit 70 Jahren und immer noch, heute halt mit Online-Shop für Fanartikel: „Zum Goldenen Handschuh“ auf St. Pauli
Foto: Maria Feck/laif
Und die adressierten Erschöpften verstanden sofort – das Lied wurde zum Markenzeichen des Films.Riethmüller hatte ein Defizit benannt. Doch noch gab es einen Ausweg, eine Zuflucht, in der man die Hektik und den Stress des modernen Lebens hinter sich lassen konnte. Ja, eine solche Oase konnte sich sogar in der Großstadt – in der Seitenstraße einer Hauptverkehrsachse, wo sich morgens und abends die Autos stauten – befinden. Dieser Ort hieß Gasthaus, Wirtschaft, Schänke, in Österreich auch Beisl. Es war eine Stätte der Kargheit. Architektonisches Highlight war die Theke, an der ganze Lebensgeschichten erzählt worden waren. Ansonsten gab es schmucklose Holztische, auf denen sich im Lauf der Jahre Unmengen an Bier ergossen hatten. „Design“ beschränkte sich auf jenes Platzdeckchen, auf dem sich Salz- und Pfefferstreuer sowie die Maggi-Flasche befanden. Nachwürzen wurde nicht als Affront der Küche gegenüber empfunden, sondern als Möglichkeit der Umsatzsteigerung – wer salzig aß, trank viel. Und wer viel trank, wollte noch mehr trinken. So einfach war das „Geschäftsmodell“ des Wirtshauses.Sushi statt SchnitzelReich wurde man damit nicht. Trotz Sechs-Tage-Woche mit 60 bis 70 Stunden Arbeitszeit. Speisen und Getränke mussten günstig sein, damit die Kundschaft regelmäßig kam. Denn Gemütlichkeit – der stundenweise Ausstieg aus der Welt der Fremdbestimmung – war ein Ansinnen „einfacher Leute“. Und weil es damals auf den Dörfern und in Städten ohne Universität (und das waren die meisten; bis 1960 gab es in ganz Deutschland gerade mal zwei Dutzend Unis) viele einfache Leute gab, gab es auch viele Gaststätten.Kostspieligere Auszeiten, wie einen Urlaub im Süden, konnten sich kleine Angestellte und Arbeiter erst ab den frühen 60ern leisten. Dabei machten sie eine erstaunliche Entdeckung, wenn sie mit ihren vollbepackten Käfern die Alpen überquerten: Jenseits des Brenners gab es nicht nur Meer und Strand, sondern auch lange dünne Nudeln namens Spaghetti sowie gebackene Teigfladen, die mit Hartwurst und Käse belegt waren. Da traf es sich gut, dass bald auch in der Heimat die ersten Pizzerien aufmachten. Nach und nach dämmerte es den Deutschen, dass es geschmackliche Welten jenseits von Kotelett, Kohl und Kassler gab. In den 70ern ging man „zum Griechen“, in den 80ern „zum Chinesen“, in den 90ern „zum Inder“ und „zum Thailänder“. Letztere läuteten in den 00er Jahren als vorgebliche Japaner dann die Sushi-Welle ein.Diät statt DampfnudelnDoch es war nicht nur die kulinarische Vielfalt, die den Wirtshäusern zu schaffen machte. In seinem epochemachenden Werk „Die feinen Unterschiede“ (1979) hatte der französische Soziologe Pierre Bourdieu anhand zahlreicher Beispiele aufgezeigt, dass Geschmack von sozialen Voraussetzungen bestimmt wird. Wenn diese sich ändern, ändert sich auch der Geschmack. Genau das geschah in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Der gesellschaftliche Wandel lässt sich an Zahlen festmachen (zum Beispiel arbeitete 1950 noch jeder vierte Deutsche in der Landwirtschaft, 1990 nicht mal jeder dreißigste), aber mehr noch an Zeitgeistphänomenen. Als die größte Frauenzeitschrift der Bundesrepublik 1969 die „Brigitte-Diät“ einführte, war dies nicht nur eine Absage an den Wohlstandsbauch der Wirtschaftswunderjahre, sondern auch an den Lebensstil der Eltern – bloß nicht werden wie die! Diese Haltung verband brave „Brigitte“-Leserinnen mit demonstrierenden Studenten. Und als selbst die FDP im Bundestagswahlkampf 1969 versprach: „Wir schaffen die alten Zöpfe ab!“, war klar, dass sich eine ganze Generation, wenn schon nicht in politischen, so doch in Lifestyle-Fragen einig war. Gemütlichkeit war out. Wer von „abends ausgehen“ redete, meinte damit garantiert nicht den geselligen Stammtisch in der Gaststätte.Es ging darum, etwas zu „erleben“. Ob in Diskotheken, die in den 70ern wie Pilze aus dem Boden schossen (teilweise am gleichen Ort, nämlich am Waldrand), oder in zu Kulturzentren umgebauten Fabriken und Schlachthöfen, die die Illusion vermittelten, man wäre Teil einer irgendwie alternativen Szene (und sei es nur, indem man erst Kleinkunst und danach reichlich Bier konsumierte).Alkoholfreies statt SchnapsStichwort Alkohol: Auch die Kneipenszene wurde vielfältiger. In dem Maß, in dem sich die Jugendkulturen immer weiter auffächerten, verbreiterte sich das gastronomische Angebot. Für die „Popper“ gab es Cocktailbars, für die „Gothics“ Kellerclubs mit schwarz lackierten Wänden. Musik hatte dabei – anders als im Wirtshaus, wo HiFi ein Fremdwort war und nur dann Lieder erklangen, wenn jemand Geld in die Jukebox warf – eine wichtige Funktion. Sie diente als Distinktionsmerkmal und lieferte darüber hinaus einen Klangteppich, der unangenehme Gesprächspausen gnädig überdeckte. Ja, man musste nicht einmal kommunizieren; auch ohne Begleitung konnte man sich entspannt dem Getränk und der Musik hingeben. Im Wirtshaus wäre man sich wie ein verlorener Sonderling vorgekommen.Von der zielgruppenorientierten Kneipe war es nur ein kurzer Weg zur Themen- und Eventgastronomie. Was 1971 mit dem Hard Rock Café begann (aktueller Jahresumsatz: rund eine halbe Milliarde Dollar), ist längst zur globalen Industrie geworden. Teams aus Innenarchitekten und Psychologen entwickeln Raumkonzepte, bei denen nichts dem Zufall überlassen wird. Von der Farbgebung bis zur Soundtapete ist alles aufeinander abgestimmt. Das 1993 von Hans-Peter Wodarz ins Leben gerufene Gastro-Spektakel „Pomp Duck and Circumstance“ und die wenige Jahre später aufkommenden Krimidinner gingen dann noch einen Schritt weiter: Der Gast braucht sich nicht länger mit seinen Tischnachbarn zu unterhalten; professionelle Schauspieler sorgen für gute Unterhaltung. Und hinterher geht man mit dem Gefühl nach Hause, etwas erlebt zu haben.Perfekt statt entspanntDoch die perfekt inszenierte Gastro-Welt hat ihren Preis. Im wörtlichen Sinn: Für ein Krimidinner sind pro Person 90 Euro aufwärts fällig, Getränke kosten extra. Da sind bei einem Abend zu zweit schnell 250 Euro weg. In einer Gaststätte hätte man dafür mindestens eine Woche gebraucht. Schwerer noch wiegt der ideelle Verlust. Das Wirtshaus war ein gesellschaftlicher Gleichmacher. Michael Kunze, der die sozialkritischen Texte vieler Udo-Jürgens-Songs schrieb (u.a. „Griechischer Wein“, „Ein ehrenwertes Haus“, „Ich war noch niemals in New York“) brachte es in dem Peter-Alexander-Lied „Die kleine Kneipe“ auf den Punkt: „Dort in der Kneipe in unserer Straße, da fragt dich keiner, was du hast oder bist.“ Darin besteht das Wesen der Gemütlichkeit; man kann sich fallen lassen, muss nicht über Status und Image nachdenken. Der Gasthof bietet einen Raum, in dem man wieder zu sich selbst findet und – mit freundlicher Unterstützung des Hopfens – zur Ruhe kommt.Aber solche Stätten gibt es immer weniger. Die Corona-Kontaktsperren haben viele ältere Wirte genutzt, um endlich in Rente zu gehen. Und ihren Kindern, die täglich miterlebt haben, welcher Knochenjob dieser Beruf ist, steht nicht der Sinn danach, den elterlichen Betrieb zu übernehmen. Dadurch hat das Sterben traditioneller Gasthöfe und Wirtschaften sich beschleunigt. Die so entstandene Lücke empfinden viele als schmerzhaft. Der Hygge-Hype der letzten Jahre ist eine Reaktion darauf. Doch den Bemühungen, eine skandinavisch angehauchte neogemütliche Nische zu erschaffen, wohnt etwas Verzweifeltes inne. Der Versuch, mit Retromöbeln eine Idylle zu rekonstruieren, die es in dieser Form nie gab, macht nur umso deutlicher bewusst, was in den vergangenen Jahrzehnten verloren ging.Das klassische Wirtshaus war eine Kampfansage an die Zumutungen des Industrie- und Hightech-Zeitalters. Es war der Gegenentwurf zu einer Welt, die im Dienste des Fortschritts alles rationalisieren und perfektionieren will, auch den Menschen. Denn es zelebrierte den Status quo. Indem es sich der Optimierung verweigerte, signalisierte es: So wie es ist, ist es gut. Ein Schweinebraten ist ein Schweinebraten ist ein Schweinebraten. Wir werden solche einfachen Gewissheiten noch vermissen.