Ich war ein furchtbar schüchterner Junge – diese Popstars der 1980er retteten mich
Popkultur Teenager, aber kein Macho oder Macker zu sein, das war als Hetero schon in den 1980ern schwierig. Glücklicherweise gab es Boy George, Madonna oder Prince
New Romantics in den 80’ern: Fernab von Genderklischees
Foto: Gabor Scott/Redferns/Getty Images
Der Feind trug Jeans- oder Lederjacke. Er hatte eine Fluppe in der Hand. Wenn er ein hübsches Mädchen sah, dann blickte er nicht verlegen nach unten, sondern lächelte es an. Und wenn ihm das Lächeln gefiel, dann hielt er bald in der anderen Hand das Mädchen.
Das war gefühlt schlimmer als die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, der emotionale Super-GAU. Beweis dafür, wie ungerecht und grausam die Welt war. Natürlich konnte man sich einreden, dass Mädchen, die auf diese Masche hereinfielen, es nicht anders verdient hatten. Aber insgeheim wusste man es besser: Es war der Neid, der einen so denken ließ. Gern wäre man, wenigstens im entscheidenden Moment, „Macho“ oder „Macker“ gewesen.
Doch leider litt man unter dem sc
man unter dem schlimmsten Defekt, unter dem ein männlicher Teenager leiden konnte: Schüchternheit. Sie machte die Pubertät noch unerträglicher. Dabei war diese per se schon schrecklich genug! Pubertät ist nämlich nur ein anderes Wort für Hölle.Man muss sie sich als Virusprogramm vorstellen, das eine Festplatte verwüstet, die jahrelang hervorragend funktioniert hat. All die Gewissheiten, die man vor der Adoleszenz hatte (niemand erfasst intuitiv den Irrsinn der Erwachsenenwelt so gut wie Kinder), verschwinden. Was bleibt, ist eine umfassende geistige und hormonelle Verwirrung. In einer solchen Situation bräuchte ein Junge ein Mädchen, dem es ähnlich geht. Was er nicht braucht: Verwandte, die bei Geburtstagsfeiern inquisitorisch fragen, ob man schon eine Freundin habe. Es helfen auch keine Ratschläge aus dem Handbuch des Flirtens. Das Problem ist ja nicht die Theorie, sondern die Praxis. Man vermag sein Wissen nicht umzusetzen. So wachsen die Selbstzweifel.Strahlemann und LuftikussDiese werden verstärkt durch jene überlebensgroßen maskulinen Leadsänger der 1960er, 1970er und 1980er Jahre: Mick Jagger (Rolling Stones), Robert Plant (Led Zeppelin) und David Lee Roth (Van Halen). Nicht zu vergessen: ihre unzähligen Nachahmer, die dafür sorgten, dass vor allem Hard-Rock- und Heavy-Metal-Bands im Testosteron badeten. Ihr selbstherrliches Auftreten konnte man als sexistisch bezeichnen, aber wenigstens hatten diese Männer Sex. Und ließen es jeden wissen.Als Leitsterne für schüchterne Jungs taugten sie nicht. Ebenso wenig wie jene Popidole, die von den Bravo-Leserinnen regelmäßig zu den „Bravo-Otto“-Gewinnern gewählt wurden – eine Auszeichnung, die seit der Gründung der Zeitschrift als Publikumspreis für die beliebtesten Künstler vergeben wurde.Es waren Strahlemänner wie David Cassidy, Jürgen Drews oder Leif Garrett und Bands wie Smokie, Duran Duran oder a-ha. „Schönlinge“ nannten wir, die Zukurzgekommenen, sie verächtlich. Doch auch aus diesem Ausdruck sprach der Neid. Den Hochgebirgspass zum anderen Geschlecht überflogen diese Luftikusse einfach. Wie hätte man sich mit solchen Glückskindern identifizieren können?Ja, da gab es männliche Gegenentwürfe. Traurige Country-, Soul- und Folksänger, die die Liebe enttäuscht zurückgelassen hatte. Aber wenigstens hatten sie diese hautnah erfahren; sie konnten mitreden. Rettung für uns Greenhorns kam aus einer unvermuteten Ecke. Wenn einem die traditionellen Mannsbilder der Populärmusik nicht weiterhelfen konnten, mussten eben andere ran. Männer, die nicht immer auf Anhieb als solche zu erkennen waren, und Frauen, die es offenließen, wen sie liebten und wie sie sich definierten.Denn damals, in den 1980ern, waren Zuordnungen wie „nicht-binär“ und „queer“ noch unbekannt. Dass George Michael schwul sein könnte, hätte man ins Reich des Absurden verwiesen. Auch die Homosexualität eines Freddie Mercury kam nicht öffentlich zur Sprache. Man mag diese „Don’t ask, don’t tell“-Mentalität für verlogen und verklemmt halten, doch hatte die sexuelle Schwammigkeit einen unschlagbaren Vorteil: Wo es keine trennenden Schubladen gab, entstand eine gigantische Gemeinschaft – die Community der Außenseiter.Paradiesvögel des PopZu ihr zählten so unterschiedliche Menschen wie David Bowie und Sade, Grace Jones und Michael Jackson, Madonna und Boy George, Tina Turner und Prince, sowie die Bands Human League, ABC, The Cure, Frankie Goes To Hollywood – um nur einige zu nennen. Was all diese Musiker und Gruppen verband, war ihr Nichteinverstanden sein mit einer Welt, in der die Farblosen das Sagen hatten. Und sie wehrten sich, indem sie eine andere, buntere Welt erschufen. „Bunt“ war dabei eine ästhetische Kategorie, keine politische. Das Gegenteil von bunt war nicht braun, sondern grau. 1980 hatten Fehlfarben gesungen: „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt, den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat.“ Dieser Grauschleier-Welt sagten die Paradiesvögel des Pop den Kampf an.Wenn Boy George sich kostümierte, Grace Jones zu ihrem eigenen Model wurde, Michael Jackson sich vorwärtslaufend rückwärts bewegte und Martin Fry von ABC in den Goldanzug stieg, dann verfolgten sie alle das gleiche Ziel: Sie wollten endlich sichtbar werden. Wenn schon Außenseiter, dann bitte Las-Vegas-grell!Das jedoch war nur möglich, indem sie sich neu erfanden. Wenn es sein musste, wie David Bowie und Madonna, mit jedem Album anders. Es kam nicht darauf an, wer man war, sondern: Wer man sein wollte. Diese Botschaft war auch für uns, die gehemmten Jungs, ein Befreiungsschlag.Die Stars von heute haben authentisch zu seinWir hatten befürchtet, uns zwischen den trostlosen Alternativen „schüchtern bleiben“ oder „Macker werden“ entscheiden zu müssen. Nun tat sich ein neuer Weg auf. Prince machte es vor: Man konnte knapp 1,60 Meter groß sein und wurde dennoch als Gigant wahrgenommen. Madonna zeigte, wie man als Frau in einer von Männern beherrschten Welt die Machtverhältnisse umkehrte. Und Tina Turner ließ ihren toxischen Ex-Mann Ike endgültig hinter sich.Sie bewiesen: Man konnte auch unter widrigen Umständen Herr seines Schicksals sein. Wenn es Prince oder Madonna gelang, sich auf der Bühne über Körpergröße, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung und traumatische Erfahrungen hinwegzusetzen, dann musste es ebenso gut möglich sein, Schüchternheit zu überwinden.Aus und vorbei! Etwas anderes sein zu wollen, als man ist – wo kämen wir da hin! Lana Del Rey muss sich vorhalten lassen, sie inszeniere sich als Kunstfigur. Der Star von heute hat gefälligst „authentisch“ zu sein. Billie Eilish und Ariana Grande machen es vor. Immer wieder erklären sie der Öffentlichkeit wortreich, wer sie „wirklich“ sind. Da bleibt nichts ausgespart. Spätestens wenn von Tourette-Syndrom und posttraumatischer Belastungsstörung die Rede ist, mutiert der Star zum Psychowrack wie du und ich.Er ist nicht länger Projektionsfläche für Sehnsüchte und Wünsche, sondern nur noch das Alter Ego seiner Fans. Hier findet eine Selbstverzwergung statt – „ich bin ganz genauso klein wie du“ (Heinz Rudolf Kunze im Song Leg nicht auf). Aber will man das als junger Mensch, der mit sich selbst zu kämpfen hat, wirklich hören?Niemand möchte so sein, wie er ist. Schon gar nicht als Teenager. „Das ausgedachte Image ist das authentischste, denn so wollen wir sein“, schreibt der Musikpromoter Christian Biadacz vor Kurzem auf Facebook. Wir wären alle gern größer, mutiger, sexyer. Genau darum ging es beim Pop. Um die Möglichkeit, jemand anderes sein zu dürfen. Doch davon wollen die Stars der Gegenwart nichts mehr wissen. Ich stelle es mir schrecklich vor, heute schüchtern zu sein.
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