Langzeitdokument Ute und Werner Mahler fotografierten immer wieder im Dorf Berka in Thüringen, wo Ute Mahler aufgewachsen ist. Zusammen mit Bildern von Utes Vater Ludwig Schirmer entstand so ein Porträt, das 70 Jahre umspannt
Fotografie aus Berka von Werner Mahler in den Jahren 1977/78
Foto: Werner Mahler
Fotografien sind per se Zeitkonserven, mit der entscheidenden Eigenschaft, dass sie nur den Moment festhalten können. Egal, ob die Belichtungszeit den Bruchteil einer Sekunde oder – als Langzeitbelichtung – mehrere Minuten beträgt, es bleibt trotzdem der eine Moment, der aufs Trägermaterial gebannt wird. Freilich kann auch das Einzelbild Geschichte(n) erzählen, Kontur gewinnt diese aber in der Fortsetzung mit anderen Bildern. Erst in der Serie wird aus dem Moment eine Erzählung, entsteht aus dem Zusammenhang etwas Übergreifendes. Die Steigerungsform dessen ist die Langzeitbeobachtung.
Sich einem Sujet über einen langen Zeitraum immer wieder zu nähern, hat etwas ungemein Faszinierendes für den Betrachter, ob im Film oder in der Fotogra
er Fotografie. Es gibt wohl kaum Existenzielleres in der Kunst, als dem Vergehen der Zeit in Gesichtern und Landschaften zuzusehen und dabei der eigenen Vergänglichkeit gewahr zu werden. Prominentestes Beispiel ist sicherlich die Fotoserie The Brown Sisters des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon. Seit 1975 porträtiert er jedes Jahr seine Frau und ihre drei Schwestern, immer in derselben Konstellation, und hat es mit seiner Fotoserie in die berühmtesten Museen der Welt geschafft.Placeholder image-1Neben dieser Funktion als Memento mori bieten Langzeitdokumentationen die Gelegenheit, die politischen und gesellschaftlichen Zeitläufte komprimiert wie im Zeitraffer zu betrachten. Dabei sind sie selten von vornherein als solche geplant und konzipiert. Auch das fotografische Porträt des thüringischen Dorfes Berka an der Wipper nahe der Kleinstadt Sondershausen, welches einen Zeitraum von mehr als siebzig Jahren umfasst, ist eine Folge von biografischen Zufällen und familiären Zusammenhängen.Das meistfotografierte Dorf DeutschlandsUte Mahler, heute eine der bekanntesten deutschen Fotografinnen, wurde in Berka als Kind des örtlichen Müllermeisters Ludwig Schirmer geboren. Dieser, der Überlieferung nach ein eher musischer Mensch, haderte mit seinem Schicksal, welches ihn auserkoren hatte, die elterliche Wassermühle zu übernehmen. Seine Leidenschaft war die Fotografie, die er als Amateur und Autodidakt eifrig betrieb. Neben der Arbeit fand er die Zeit, das Leben im Dorf und auf dem Feld in Bilder zu fassen. Über zehn Jahre hinweg fotografierte er den dörflichen Alltag mitsamt den darin eingestreuten Höhepunkten und wurde zum Chronisten eines Lebensstils, der mit den nachfolgenden Umwälzungen auf dem Land allmählich verschwand. 1961 war Schluss, Schirmer gab das Müllerleben endgültig auf und zog nach Berlin, wo er ein Fotostudio eröffnete und zu einem gut beschäftigten Werbefotografen wurde. Später holte er die Familie nach und ließ sich mit ihr in Lehnitz bei Berlin nieder.Ute Mahler war vierzehn, als sie Berka verließ – und doch immer wieder dorthin zurückkehrte. Ihr späterer Mann Werner Mahler, ebenfalls Fotograf, porträtierte die Menschen des Dorfes erneut Ende der 1970er Jahre für seine Diplomarbeit an der Leipziger HGB, kehrte 1998 im Auftrag des Magazins Stern zurück, und zuletzt suchte Ute Mahler 2020/21 in den Gesichtern und Menschen des Dorfes nach den Spuren ihrer eigenen Kindheit.Placeholder image-2Damit dürfte das kleine Berka das meistfotografierte Dorf Deutschlands sein. Der nun erschienene Bildband Ein Dorf ist sowohl Familiengeschichte als auch soziologische Langzeitstudie. Nähert man sich der ersten Werkgruppe, den Bildern Schirmers aus den 1950er Jahren, fällt schnell eine beeindruckende Nähe zwischen den Menschen auf, die offenbar ihren Alltag weitgehend miteinander geteilt haben. Schon gerät der Rezensent ins Stocken, keinesfalls möchte er in den Verdacht falscher Nostalgie geraten, nach der früher immer mehr Lametta war. Und doch ist auffallend, wie distanzlos und lebensprall die Menschen wirken.Freilich liegt Schirmers Fokus weniger auf der harten Arbeit auf dem Feld oder im Stall, die seinerzeit meistens Handarbeit und wenig Mechanisierung bedeutete. Solche Bilder gibt es auch, sein Hauptaugenmerk gilt aber den Höhepunkten des Dorflebens: Fasching, Hochzeiten, Frühschoppen, Schlacht-, Kinder- und zahlreiche andere Feste. Anlässe, sich zu versammeln und Gemeinsamkeit zu zelebrieren, scheint es genügend gegeben zu haben.Placeholder image-3Ist es zu viel in die Fotografien hineininterpretiert, wenn man meint, in ihnen die Freude darüber zu spüren, nach den Jahren von Krieg und Nachkrieg und den damit verbundenen harten Entbehrungen noch einmal davongekommen zu sein? Mitunter sind junge Männer mit fehlenden Gliedmaßen zu sehen, und es wird deutlich, wie kurz der Krieg erst zurücklag. Was hingegen fast völlig fehlt, sind die Insignien des sozialistischen sogenannten Frühlings auf dem Lande, der erst Ende der 1950er Jahre richtig in Fahrt kam und dörfliche Lebensstile nachhaltig umkrempelte. Die reichen Großbauern waren allerdings schon im Zuge der Bodenreform nach 1945 enteignet worden und meist in den Westen gegangen, was zur Einebnung sozialer Widersprüche beitrug. Die auf Schirmers Bildern offenbar werdende Atmosphäre der Gemeinschaftlichkeit und des Übermuts ist Ausdruck einer Zwischenzeit. Dem Krieg entronnen, scheint das traditionelle bäuerliche Leben eine späte und kurze Blüte zu erleben, bevor die Umwälzungen des sozialistischen Frühlings mit seiner Vergesellschaftung der Produktionsmittel neue Lebensstile hervorbrachten.Schirmers Werk blieb lange unbekannt, erst nach seinem Tod 2001 zeigte sich, welchen Schatz die Kisten voller Negative, Kontakte und Abzüge verbargen. Werner Mahler kannte die Bilder also nicht, als er 1977/78 längere Zeit in dem Ort verbrachte, aus dem seine Frau kam, um das Dorf eine Generation später ein weiteres Mal zu porträtieren. Seine Sicht unterscheidet sich gar nicht so sehr von der Schirmers, wenn sich auch das äußere Erscheinungsbild verändert hat. Ende der 1970er Jahre war die Gesellschaft konsolidiert und bescheidener Wohlstand eingezogen. Mittelpunkt des Dorfes ist nun die Konsumverkaufsstelle, in der es entgegen der Stereotypisierung der DDR als Mangelgesellschaft an wenig zu mangeln scheint.Das (Dorf-) Leben ist moderner geworden, was freilich einschließt, dass sich die typische DDR-Ästhetik über Land und Leute gelegt hat. Die Frauen laufen in den altbekannten Kittelschürzen aus Dederon umher, die glücklicherweise zusammen mit der DDR aus dem Alltag verschwunden sind. Von der Kittelschürze auf die Rolle der Frauen im Alltag zu schließen, führt allerdings in die Irre. Sie dürfen inzwischen auch Traktor fahren und „ihren Mann“ stehen, wie es seinerzeit so patriarchalisch hieß. Geselligkeit und Rituale wie das Schlachten spielen nach wie vor eine wichtige Rolle im Dorfleben. Sogar neue Feste wie die Jugendweihe haben Einzug gehalten, sie finden in der neu errichteten Turnhalle statt. Werner Mahler ist bei alldem dicht dran an den Protagonisten; kein distanzierter Beobachter, sondern Teil der Gemeinschaft, was den Bildern eine Intimität verleiht, die auch schon bei Schirmer kennzeichnend ist.Placeholder image-4Die Entwicklung nach 1990Die späten Siebziger waren auch die Zeit der beginnenden Stagnation, in der die Menschen langsam den Glauben verloren, dass es immer weiter aufwärts gehen würde. Zwar zehrte man von dem Modernisierungsschub der 1960er und frühen 1970er Jahre, die Innovationskraft aber war aufgebraucht und das äußere Erscheinungsbild des Dorfes änderte sich bis zum Ende der DDR kaum noch. Umso interessanter ist der Abgleich mit seiner zweiten Serie, die Mahler 1998 im Auftrag des Magazins Stern fotografierte. Dazwischen liegt ja die Zeitenwende, die alle Bereiche der Gesellschaft, des Alltagslebens und der dörflichen Strukturen umwälzte. Dem Stern schwebte wohl ein Bericht über die nunmehr blühenden Landschaften des Ostens vor, den Mahler nicht liefern konnte oder wollte, sodass die Serie am Ende nicht gedruckt wurde. Sein Blick ist von Nüchternheit geprägt; oder sollte man „Ernüchterung“ sagen?Das alte Dorf ist kaum noch wiederzuerkennen. Die Lebensstile haben sich diversifiziert und individualisiert. Neuer Wohlstand ist eingezogen, doch seine Insignien wirken fremd, wie aufgesetzt, standardisiert und austauschbar. Authentische Dorfkneipen sind durch ästhetische Belanglosigkeiten aus dem Katalog ersetzt worden. Distinktion und Status sind neue Werte, die die Dörfler voneinander trennen und seit der Bodenreform nicht mehr gekannte soziale Gegensätze wiederbelebt haben. Gefeiert wird immer noch, aber die einstige distanzlose Unbeschwertheit ist dem kontrollierten Vergnügen gewichen.Bei Ute Mahler ist aus dem einst lebendigen Dorf in der Gegenwart vollends eine reine Schlafstatt geworden, aus der die Menschen nur mehr woandershin zur Arbeit pendeln und sich bei der Rückkehr in ihren – nunmehr properen – Häusern verkriechen. Beide Mahlers haben dieses Phänomen bereits in ihrem Projekt Kleinstadt untersucht, für das sie drei Jahre durch die Republik reisten, um das Phänomen des Lebens in der Provinz zu erkunden. Bereits damals berichteten sie, wie schwierig es sei, in den wie ausgestorben wirkenden Orten überhaupt jemanden zu finden, der sich fotografieren ließ. Dieses Problem hatte Ute Mahler in Berka aufgrund ihrer familiären Wurzeln nicht, trotzdem ist ihr Blick auf das Dorf distanzierter geworden, gespeist von einer gewissen Entfremdung. Ist es diese Verödung des Gemeinschaftslebens, weshalb bei Befragungen von Menschen im Osten heute so oft die Mär vom einstigen „Zusammenhalt“ erzählt wird? Allzu oft war dieser sicherlich eher eine Zwangsgemeinschaft. Trotzdem ist die gegenwärtige Hinwendung zu autoritären Alles-wird-wie-früher-Ideologien auch der mentalen Leerstelle geschuldet, die der Zusammenbruch der ländlichen sozialen Strukturen hinterlassen hat.Placeholder image-5Ute Mahlers Hauptaugenmerk gilt den Jugendlichen des Dorfes. In den Porträts von um die 14-jährigen Mädchen und Jungen ist sie auf der Suche nach den eigenen Wurzeln, denn 14 war sie selbst, als sie das Dorf verließ. Bleiben oder gehen ist für diese Jugendlichen auch heute die Frage, die sie umtreibt, umso mehr, als das Landleben kaum mehr Perspektiven bietet. Schon rein äußerlich haben sie nichts mehr mit traditioneller Landjugend gemein; die Jungs haben nicht mehr nur einfach Schuhe an, sondern tragen Nikes. Die Gesichter der Jugendlichen sind schon so wissend, bar jeder kindlichen Naivität, abgeklärt, erwachsen – Folge eines Lebens im ewigen Übergang.Als Gegengewicht zum scheinbar immer schnelleren Fluss des Lebens dienen die Landschaften, mit denen sich die Porträts abwechseln. Sie sind das Einzige, was von früher geblieben ist und werden für Ute Mahler zum Anker der Sehnsucht nach der Kindheit. Bewusst hat sie die Ästhetik der Fünfzigerjahre gewählt, schwarz-weiß, gefühlvoll und zeitlos. Landschaften sind letztlich das, was trotz aller menschlichen Eingriffe Kontinuität verkörpert. Sie bilden im Buch die Brücke, an der sich die Grenzen zwischen den Generationen, zwischen gestern und heute auflösen.
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