Alles auf den Bildern dieser Fotografin ist belebt, atmet, fühlt: Menschen, Tiere, Häuser, Straßenzüge, Landschaften, Dinge. Man ist verführt zu sagen: Alles, was sie ansah, fühlte sich geliebt – wenn das nicht ein wenig übergriffig klingen, Sentimentalität vermuten lassen könnte.
Beides war diese Fotografin wahrhaft nie. Aber sie schien über die Gabe zu verfügen, das, was sie ansah, in Zärtlichkeit zu hüllen, ihm Gutes zuzudenken. „Wiegenehrlichkeit“ nannte ihre Lebensfreundin, die Poetin Elke Erb, dies.
Helga Paris interessierte sich wenig für das per se mit öffentlicher Aufmerksamkeit Bedachte. In den 80er-Jahren hatte sie in Moskau zahlreiche Stars des internationalen Kinos porträtiert: Robe
ätiert: Robert De Niro, Hanna Schygulla, Anouk Aimé und andere. Für Paris waren solche Bilder schlicht Broterwerb. Was sie erzählen musste und wollte, fand sie im gewöhnlich Übersehenen.1938 in Goleniów geboren, wuchs Helga Paris in Zossen auf. Auf der Flucht vor der gen Berlin vorrückenden Front hatten die Mutter Gertrud Steffens, die sechsjährige Helga und ihre wenig ältere Schwester im Elternhaus von Gertrud Aufnahme gefunden. Es war eine Frauenwelt: Der Vater Wilhelm Steffens, gelernter Schriftsetzer, war zwei Tage nach der Heimkehr aus dem Krieg ohne gültige Papiere von einer russischen Militärstreife aufgegriffen und Jahre später als verstorben gemeldet worden. Der Großvater – er hatte einst seine Tochter auf den Schultern nach Berlin getragen, um ihr Rosa Luxemburg zu zeigen – war verhungert. Die beiden Brüder waren vom Krieg in die Fremde verschlagen worden. Männlichkeit existierte in jenen Jahren vor allem in militärischer Gestalt: In Zossen hatte von 1939 bis 1945 das Oberkommando des Heeres, dann das Oberkommando der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland seinen Sitz. Helga Paris erinnerte Geborgenheit im Kreis der Frauen, Furcht und Vertrauen.Vermutlich bildet diese Melange, bereichert um frühe Begegnungen mit Bildern des sowjetischen, französischen und italienischen Kinos, mit Bildern von Max Beckmann, Werner Heldt, Edvard Munch, Pablo Picasso und Francis Bacon, den mentalen Grund ihres vielschichtigen Werks. Ihre Fotografien sind gesättigt mit Wissen um die äußere wie innere Fragilität des Seins. Vor jeweils zeitgenössischem Hintergrund scheint Helga Paris dies immer wieder neu auszuformulieren.Die maroden Häuser im Prenzlauer Berg, in Halle, der Leipziger Hauptbahnhof: Sie waren Überlebende. Die Menschen in Siebenbürgen (1980) und Georgien (1982), die Berliner Jugendlichen (1981/82), die Frauen im Bekleidungswerk Treff-Modelle (1984), die Il Legionario (1995/96), junge Männer im römischen Bahnhofsviertel, die Frauen, die ihr 1996/97 auf ihrer polnischen Reise begegneten, und auch die 1999 auf dem Alexanderplatz Porträtierten: Sie alle scheinen Wissende zu sein. In „Wiegenehrlichkeit“.Placeholder image-1Helga Paris hatte Modedesign studiert und anschließend als Kostümverantwortliche an dem 1961 von Wolf Biermann und Brigitte Soubeyran gegründeten, schon vor der ersten Premiere wieder geschlossenen Berliner Arbeiter- und Studententheater b.a.t. gearbeitet. Mit ihrem damaligen Mann, dem Maler Ronald Paris, und den Kindern Jenny und Robert zog sie 1966 in den Prenzlauer Berg. Unter Zuspruch des Regisseurs Peter Voigt begann sie 1967 ernsthaft zu fotografieren. Technisches Wissen eignete sie sich während zeitweiliger Anstellungen in einem Fotolabor und einem Werbestudio an. Während der Probenarbeiten von Benno Besson und Brigitte Soubeyran an der Volksbühne Berlin (1971/72) und von Alexander Lang und Frido Solter am Deutschen Theater (1975-1980) habe sie, wie sie gerne erzählte, in vertrauensvoller Gemeinschaft das situative Agieren mit der Kamera erlernt.Ein Bilderschatz mit ZukunftAnfänglich suchte Helga Paris ihre Bilder in der Nachbarschaft. Sie porträtierte Müllfahrer (1974), Verkäuferinnen, Kinder und Jugendliche auf der Straße, Menschen in den damals noch zahlreichen proletarischen Berliner Kneipen (1974). Das Interesse am Einzelbild und die Arbeit in Bildfolgen hielten sich stets die Waage. Ihre wohl bekannteste Serie, Häuser und Gesichter. Halle 1983 – 1985, wurde 1991 unter dem Titel Diva in Grau erstmals als Buch publiziert. Helga Paris hatte die absichtsvolle Verwahrlosung der im Krieg weitestgehend unbeschädigten Innenstadt – Teil von Strategien der „Entbürgerlichung“ der DDR – dokumentiert. Deren sichtbare Folgen konnten offenbar selbst ihre Verursacher so wenig ertragen, dass sie die 1986 bereits im Aufbau befindliche Ausstellung, den bereits gedruckten Katalog, kurzerhand untersagt hatten.„Ich mache mit den Gegenständen im Grunde dasselbe, was ich möchte, daß man es mit mir tut: direkt vor mich hintreten, mich sein lassen und mich aufnehmen.“ So beschrieb die gleichaltrige Elke Erb ihre eigene Arbeitsweise und umriss, möchte man glauben, zugleich den sehr spezifischen Arbeitsmodus ihrer fotografierenden Freundin. In den Selbstporträts (1981 – 1989) ist er regelrecht durchbuchstabiert. Helga Paris wollte nicht „interpretieren“ – sie wollte bezeugen.Nach 1989 begann eine neue Phase: die dezidierte Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. Dafür fanden nun Unschärfen, offensichtliche Inszenierungen und größere Formate Anwendung. Für Erinnerungen an Z. fotografierte Paris 1994, nach dem Abzug der russischen Streitkräfte aus Zossen, an Orten ihrer Kindheit, die über Jahrzehnte für sie unzugänglich gewesen waren. Als sie 2019, in ihrer großen Ausstellung in der Akademie der Künste, vor dieser Arbeit stand, konnte sie das Format der einst eigenhändig erstellten Abzüge kaum fassen. Ihr Negativarchiv übergab sie als Schenkung im selben Jahr der Akademie, deren Mitglied sie seit 1996 war. 2019 wurde ihr Lebenswerk mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie gewürdigt.Nun ist die große, autodidaktische Einzelgängerin der deutschen Fotografie, die nie einer fotografischen Schule angehört hatte und die sich vermutlich den zahlreich porträtierten malenden, dichtenden und Theater-Menschen stets näher gefühlt hatte als Berufskolleg*innen, am 5. Februar 2024 verstorben. Sie hinterlässt einen Bilderschatz, der auf unvergleichliche Weise eine „Chronik der Gefühle“ des langen deutschen Nachkriegs in die Zukunft trägt.Placeholder authorbio-1