Österreich/Schweiz: Von der NATO integriert werden, ohne einzutreten
Neutralitätsverzicht Mit der „European Sky Shield Initiative“ haben sich die Regierungen in Wien und Bern einem der ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa angeschlossen. Ein vom NATO-Hauptquartier vorgegebenes Programm? Das ist keine Neutralität mehr
Elterngeld, Rente, Kulturförderung – welche Einsparungen sollen wohl Wiens und Berns neue Waffensysteme gegenfinanzieren?
Foto: Jens Gyarmaty/Laif
Die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) ist eines der größten und ambitioniertesten Rüstungsprojekte in Europa. 19 Staaten wollen gemeinsam einen flächendeckenden Luftabwehr-Schirm über weite Teile des Kontinents spannen. Ein entsprechendes Dokument wurde vergangenen Freitag in Bern unterzeichnet. Sky Shield soll eine Art Einkaufsplattform sein. Als Kollektiv mehrerer europäischer Länder trete man an die Verteidigungsindustrie heran, um Infrastruktur zu einem guten Preis zu bekommen, so etwa der Militärexperte Franz-Stefan Gady auf dem Sender Ö1.
Bis zur Etablierung dieser Systeme wird es freilich noch dauern. „Die neuen Mittel, die vollständig interoperabel und nahtlos in die Luft- und Raketenabwehr der NATO integriert
integriert sind, würden unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Bündnisses gegen alle Luft- und Raketenbedrohungen erheblich verbessern“, hieß es dazu schon im Herbst 2022 auf der NATO-Website. Interoperabilität, so sagt uns das schlaue Netz, ist die Fähigkeit verschiedener Systeme, Geräte, Anwendungen oder Produkte, sich zu verbinden und dabei zu kommunizieren, ohne dass der Endnutzer etwas dafür tun muss. Im Ernstfall braucht es somit keiner besonderen Genehmigung seitens der Mitglieder. Nicht spezifisch soll auf etwaige Herausforderungen reagiert werden, sondern das vom NATO-Hauptquartier vorgegebene Programm wird für alle, auch für die Neutralen, verbindlich. Nicht nur das Zustandekommen ist ein Erfolg des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD), sondern auch, dass er Österreich und die Schweiz da en passant einkassiert hat. Zweifellos handelt es sich um eine Art Superbooster der Allianz.Himmelfahrtskommando über den AlpenEs war Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der bereits vor Jahren die österreichische Neutralität – Resultat eines Staatsvertrags zwischen der Zweiten Republik und den Besatzungsmächten aus dem Jahr 1955 – zu einem „Element der Selbstdefinition“ degradierte. Laut solcher Selbstdefinitionen erklären nun auch die beigezogenen Experten, dass dieser Beitritt zu Sky Shield mit Neutralität vereinbar sei. Man hätte es nicht anders erwartet. Es handelt sich um einen akkordierten Schritt, der – um vollendete Tatsachen zu schaffen – rasch vollzogen werden muss. Speed kills. Letztlich werden damit Österreich und die Schweiz in die NATO integriert, ohne beitreten zu müssen. Man erspart sich lästige Grundsatzdebatten, während die Anbindung an die westliche Militärallianz stracks um einen Zacken weitergedreht wird. Alte Neutralitäten flutschen ins Nichts.Zu diskutieren wäre wenig, heißt es, schließlich geht es um den Schutz vor äußeren Aggressoren. Wer die sind, ist klar. Sky Shield soll vor russischen Luftangriffen schützen. In Russland und nur dort haust und lauert das Böse. Man selbst sieht sich als unschuldiges, rein defensives Bündnis zur Feier von Freiheit und Demokratie. Dieses imaginierte Europa geht immer davon aus, keine Bedrohung zu sein, sondern allenfalls bedroht zu werden. „Die Neutralität verteidigt uns nicht, und sie schützt uns nicht“, sagt Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). Der bestechende, aber beschränkte Gedanke, dass ausschließlich Waffen schützen und nicht Verhaltensweisen, scheint einer solchen Denke gar nicht zu kommen. Die Diplomatie ist auf dem Abstellgleis gelandet. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.Da knallen die SektkorkenAuch die Militärs spüren wieder Oberwasser. Endlich werden sie nicht mehr ausgehungert, endlich dürfen sie teure Waffensysteme anschaffen. Endlich das haben und tun dürfen, was man immer schon wollte. Abrüstung (oder gar Armeeabschaffung) wird zu einer Idee von vorgestern, die Zukunft gehört der Aufrüstung. In den militärischen Sektoren Österreichs knallen die Sektkorken. Auf jeden Fall verdanken wir die geplante Aufrüstung fast ausschließlich dem Krieg in der Ukraine und den eigenartigen Schlussfolgerungen, die gezogen werden. Anders als in Finnland (oder bald Schweden) wird man zwar der NATO noch nicht beitreten, aber irgendwann in nicht so fernen Tagen wohl meinen, dass die materielle Zugehörigkeit auch nach einem formellen Vollzug schreit. „Warum bekennen wir uns nicht endlich zu einer Vollmitgliedschaft in der NATO?“, fragt nicht nur ein Poster in irgendeiner Tageszeitung. Barbara Toth vom linksliberalen Falter nennt die Neutralität „nur mehr eine ‚Chimäre‘“ und findet, „dass wir das endlich aussprechen sollten“. Eine offene Kampagne für einen österreichischen NATO-Beitritt ist indes nach wie vor heikel, daher wird man sie vorerst unterlassen. Es geht auch so.Wer widerspricht, wird denunziertWas man aber nicht lassen wird: dezidierte Kritik fortan den sogenannten radikalen Rändern der Gesellschaft zuzuordnen, sprich: „Extremisten“ von rechts und links. Die Hufeisenhypothese ist en vogue. Einmal mehr gerät die Debatte auf eine obskure Ebene. Sämtliche Einwände werden zu einem ungenießbaren Brei verrührt, um sie kollektiv zu erledigen. Weil die FPÖ gegen die Eliminierung der Neutralität ist, sind alle anderen, die auch dagegen sind, irgendwie mit den Freiheitlichen kompatibel. Proteste werden als „populistisch“ denunziert, wenn nicht gar als „rechtsextrem“ diskreditiert. Zuschreibungen werden redundant vorgetragen.Aktuell geht es um Framing und Wording. Die Identitätsspirale dreht vorhersehbare Windungen: USA = NATO = EU = Europa = globaler Norden = unsere Werte. Man müsse wissen, wohin man gehöre, und man müsse dabei und dafür sein. Das Imperium gibt vor. Der Westen soll zu einem Westblock werden. Militärische Kompetenzen sollen letztlich nur noch in den entsprechenden Kommandozentralen des Bündnisses konzentriert sein. „Interoperabel und nahtlos“ schreiten wir der Zukunft entgegen. Mit der angestrebten Teilhabe an Sky Shield wird Österreich jedenfalls zum Glied der neuen NATO-Luftabwehr, auch wenn es gar nicht NATO-Mitglied ist.Neutralitätsrechtliche ZusatzerklärungNatürlich wurde bei der Unterzeichnung eine nichtssagende neutralitätsrechtliche Zusatzerklärung beigegeben. Sie hielt fest, dass Österreichs „besondere verfassungsrechtlichen Gegebenheiten berücksichtigt werden“. Dass die Österreicher in puncto Neutralität schummeln, ist nicht neu, für die Schweiz dagegen durchaus ein Novum.Es ist relativ einfach: Wer sich einem militärischen System der NATO unterwirft, ist nicht mehr neutral. Durch solch einen Schritt haben sich die Neutralen entschieden, dass sie auf Perspektive nichts mehr zu entscheiden haben. Für die Neutralität stellt die europäische Himmelsabwehr ein Himmelfahrtskommando dar.