Kulturelle Verzierungen

Wundersamer Alltag Man kann einen Feiertag dazu benutzen, durch den Wald zu streifen und Pilze zu suchen. Aber warum tut man so etwas?
Kulturelle Verzierungen

Foto: Imago/Blickwinkel

Es gibt Tätigkeiten, die an einem "Tag der Deutschen Einheit" ferner liegen als ein Waldspaziergang und das Sammeln von Pilzen. Im Pilzesammeln unterschieden sich die Ost- und Westdeutschen spätestens in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als die Angst vor radioaktiv verstrahlten Pilzen auf beiden Seiten auf unterschiedliche Weise politisch instrumentalisiert wurde, gewaltig, und so kann man es durchaus als einen – wenn auch kleinen – Beitrag zur deutschen Einheit sehen, wenn ein ehemaliger Vorpommer am 3. Oktober 2012 in Nordrhein-Westfalen Pilze sammeln geht. Zumal es schließlich Herbst ist.

Aber warum sammelt er Pilze? Er könnte auch durch die Wälder des Sauerlandes streifen ohne den Blick suchend auf den Boden zu heften. Er könnte, wenn er Appetit auf Pilze hat, auch mit dem Rad zum Markt fahren, statt mit dem Auto in den Wald. Niemand kann behaupten dass es ökonomisch sinnvoll, ökologisch geboten oder besonders erholsam ist, angestrengt zu versuchen, trockenes Laub und Tannenzapfen von Maronen und Steinpilzen zu unterscheiden.

Nicht mit überschwänglicher Freude verknüpft

In früheren Zeiten hatte das Suchen von Pilzen und Beeren im Wald nichts mit Freude und Erholung zu tun, es gehörte für viele Menschen schlicht zur Sicherung der Ernährung. Und auch in den Erinnerungen des Autors an seine eigene Kindheit ist der Ausflug mit den Eltern in den Wald zum zweck des Suchens und Findens der Wildfrüchte nicht eben mit überschwänglicher Freude verknüpft. Für viele Menschen in der DDR waren selbst gesammelte Pilze zwar eine willkommene Abwechslung im Speiseplan oder gar eine Delikatesse, aber das galt wohl vor allem für Erwachsene und weniger für die Kinder. Ob auch in der Bundesrepublik Kinder in den 1970er Jahren noch von ihren Eltern an Samstagen freundlich zum Ausflug in den Wald gebeten wurden, mit dem Ziel, das Mittagessen zum Sonntag zu vervollkommnen, ist dem Autor nicht bekannt.

Knapp vierzig Jahre später gibt es jedenfalls keine Notwendigkeit mehr, Pilze aus dem Wald in die Pfanne daheim zu würfeln. Und trotzdem tut man es. Aus der Notwendigkeit ist eine Freude geworden. So ist es mit vielen Tätigkeiten: Manches, was vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten notwendig zum Überleben war, wurde zum Sport, wie Schifahren oder Joggen, anderes zum Hobby, etwa Töpfern und Stricken, oder eben zur Erholung, wie das Beeren- und Pilzesammeln.

Ornamente der Kultur

Noch kann man sich vorstellen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der die Leute ihre Nahrungsmittel nicht einfach aus dem Supermarkt oder dem Bioladen geholt haben, sondern dass sie manches von dem, was sie zum Leben brauchten, selbst sammeln mussten. Davon ist das Pilzesammeln sozusagen ein Erinnerungsstück, wie ein Ornament, das an einer Fassade nur noch als Schmuck angebracht ist.

Ornamente, so habe ich einmal gelesen, seien Überbleibsel von Elementen eines nützlichen Dings, die einmal eine Funktion hatten, die aber verloren gegangen ist. Sie sind dann nur noch Verzierungen an den Produkten des menschlichen Tuns. So sind auch manche Traditionen, Sportarten und Hobbys Ornamente, sie verzieren die alltägliche Kultur mit ihren nützlichen Regeln und vernünftigen Verhaltensweisen. Dass das Pilzesammeln einmal nützlich, sogar notwendig war, ist noch nicht ganz vergessen, aber es ist vorstellbar, dass sein Zweck einmal ganz in Vergessenheit gerät (man wird ihn allerdings immer im Internet recherchieren können) – und dann nur noch als zweckfreies Tun eine funktionierende kulturelle Fassade unterbricht.

Jörg Friedrich geht immer donnerstags in seiner Kolumne "Wundersamer Alltag" seinem ganz alltäglichen Staunen über die Welt nach. Denn alle Philosophie beginnt beim Staunen. Und alle Veränderung mit einem Wundern.

Vergangene Woche wunderte er sich über eine Messe, die "alles für die Frau" anbieten will.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

Jörg Friedrich

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