Zu vernünftig für soziale Gerechtigkeit

Sozialdemokratie Bei keiner anderen Partei fallen Parteiprogramm und Realpolitik so weit auseinander wie bei der SPD. Sie will nicht experimentieren, sondern verwalten

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Keine „wirtschaftsfeindliche Politik" mit Gerhard Schröder. Hier 2005 in Nürnberg
Keine „wirtschaftsfeindliche Politik" mit Gerhard Schröder. Hier 2005 in Nürnberg

Foto: Jan Pitman/Getty Images

Für den "demokratischen Sozialismus", konkret für eine "Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft" setzt sich die SPD ein. Jedenfalls nach ihrem aktuellen Parteiprogramm. Gerechtigkeit, Solidarität, Visionen. Das klingt doch nach Mut und Willenskraft.

Sicherheitshinweis – Achtung liebe SPD-Mitglieder: Die nun folgenden Ausführungen sind geeignet das Gefühl auslösen, Mitglied in der falschen Partei zu sein. Irreparable Erkenntnisse können nicht ausgeschlossen werden.

Wie die SPD den demokratischen Sozialismus einführte

1998 war es soweit. SPD und Grüne bekommen nach jahrzehntelanger Kohl-Regierung Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat. Endlich eine linke Mehrheit! Endlich die Chance, soziale Reformen in Gang zu setzen und die ganze Marktwirtschaft umzukrempeln. Reformen gab es dann tatsächlich.

Der Spitzensteuersatz wurde zunächst einmal von 53 % auf 42 % gesenkt. Den Einkommensstärksten könne schließlich nicht zugemutet werden über die Hälfte ihrer Einkünfte an den Staat abzuführen. Mit dieser Maßnahme konnte die von der SPD geführte Bundesregierung endlich von oben nach unten umverteilen. Zur Erinnerung:

Das reichste Zehntel unserer Gesellschaft besitzt 66,6 % aller Güter, die reichsten 0,1 % besitzen 23 % des Vermögens in Deutschland. Die untere Hälfte der Gesellschaft besitzt hingegen ganze 1,4 % des Vermögens. Während einige wenige Familiendynastien die größten Konzerne des Landes besitzen und so jährlich Milliardensummen erzielen, lebt ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft am Existenzminimum. In keinem anderen Staat innerhalb der Euro-Zone ist die Kluft zwischen arm und reich größer.

Nach dieser brillianten von grenzenlosem Sozialismus geprägten Schritt senkte die SPD zusammen mit der CDU die Kapitalertragssteuer von 42 % auf 25 %. Das Kapital arbeiten zu lassen lohnt sich nun mehr, als selbst Hand anzulegen. Großes Kino war natürlich auch die Reform der Erbschaftssteuer. Vererbte Unternehmen ­­wurden unabhängig von ihrer Größe – es waren auch also die größten Konzerne Deutschlands umfasst – von der Erbschaftssteuer befreit, wenn die Erben die Unternehmen eine gewisse Zeit weitergeführt hatten. Dieses Gesetz wurde jüngst vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Es bevorteile insbesondere Erben von Großkonzernen im Vergleich zu Erben von Geldvermögen in unverhältnismäßiger Weise. Nur um sich da einmal klar zu machen: Dieses Gesetz verstößt nicht etwa gegen die Gerechtigkeitserwägungen von irgendwelchen „linken Spinnern", es verstößt gegen nichts geringeres als das Grundgesetz. Nach einem Teil des Senats des BVerfG ergibt sich die Grundgesetzwidrigkeit zudem daraus, dass der Gesetzgeber damit in evidenter Weise gegen die Vorgabe des Grundgesetzes verstößt, soziale Gerechtigkeit herzustellen (Das so genannte „Sozialstaatsprinzip"). Die Partei des demokratischen Sozialismus hat sich mal wieder selbst übertroffen.

Weitere geniale Schachzüge folgten. Die Unternehmensbesteuerung wurde abgesenkt. Die tatsächliche Steuerbelastung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen war von nun an in Deutschland im Vergleich zu allen anderen EU-Staaten - mit Ausnahme von Griechenland - am niedrigsten (21 %, Link). Der Öffentlichkeit ist mittlerweile auch bekannt geworden, dass die von der SPD eingeführte Riester-Rente für die ganz überwiegende Mehrheit unwirtschaftlich sind. Verdienen tun damit in erster Linie Schröders Freunde von der Finanzindustrie. Die SPD hat zudem mit ihren zahlreichen GKV-Reformen auch die Zwei-Klassen-Medizin befördert. Während gesetzliche Krankenversicherte im Durchschnitt 71 Tage auf einen Facharzttermin warten, sind es bei privat Versicherten 19 Tage. Zudem erhalten privat Versicherte mehr medizinische Leistungen. Die medizinische Versorgung ist heute also zu einem gewissen Grad abhängig vom Geldbeutel der BürgerInnen. Sozialismus in Reinkultur! Die Liste ließe sich endlos weiterführen.

Nach sieben Jahren Rot-Grün im Bund und diversen SPD-geführten Bundesländern konnte die Partei des demokratischen Sozialismus endlich auch Bildungsgerechtigkeit herstellen. Oder? 2006 erklärte selbst das Bundesbildungsministerium: Es "entscheidet in keinem anderen Industriestaat die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland." Die Bedeutung dieser Aussage muss man sich mal vor Augen führen: Deutschland befindet sich bei dem Ranking der Bildungsgerechtigkeit auf dem allerletzten Platz der Industrienationen. Heute dient die SPD als Steigbügelhalter für Merkel. Linke Politik ist in dieser Konstellation natürlich unmöglich. Abgesehen vom Mindestlohn sind soziale Reformen nicht erkennbar. Für die SPD offensichtlich immer noch besser, als mit der Linkspartei in Koalitionsverhandlungen zu treten. Angesichts dieser Begebenheiten überrascht es nicht, dass die SPD auch auf anderen Gebieten nicht sehr aktiv wurde, zumal sie ohnehin nicht für ihre Bürgerrechtsorientierung bekannt ist. So hat die SPD in den vielen Jahren in ihrer Regierungszeit entgegen aller Argumente auch an den Verfassungs- und Staatsschutzbehörden festgehalten.

Die Finanzmarktpolitik der SPD

Zum Glück hatte die SPD Oscar Lafontaine. Lafontaine hatte tatsächlich die Weitsicht besessen, die Finanzmärkte bereits in den 90er Jahren – in Zeiten des neoliberalen Mainstreams – regulieren zu wollen, um wirtschaftsschädliche Exzesse vorzubeugen. Leider war mit Schröder eine solche „wirtschaftsfeindliche Politik" nicht zu machen. Lafontaine konnte seine Vorstellungen einer sozial gerechten Welt nicht durchsetzen. Er war offensichtlich in der falschen Partei, konsequenterweise zog er sich zurück; Lafontaine konnte sich mit Schröders geplanter Wirtschaftspolitik nicht länger identifizieren. Lafontaine war von diesem Zeitpunkt an für SPD und Teilen der Öffentlichkeit eine Persona non grata. Die rot-grüne Regierung deregulierte die Finanzindustrie, Gesetze mit den Namen Investmentmodernisierungsgesetz (führte erstmals Hedgefonds ein, zudem ohne Bankenaufsicht) und Finanzmarktförderungsgesetze wurden verabschiedet. Das Ende der Geschichte ist bekannt: Die Finanzmärkte brachen 2007 zusammen. Deutschland war infolge der Liberalisierung der Finanzmärkte tief in die Krise verstrickt und auch mitursächlich. Der Steuerzahler musste bezahlen. Die Partei der Arbeitnehmer hat wieder mal gute Arbeit geleistet. Zwar ist Peer Streinbrück 2013 mit dem Thema „Reform des Bankensektors" in den Wahlkampf gezogen, nach dessen Niederlage wurde das Reformvorhaben bei der SPD aber offensichtlich ad acta gelegt. In den Koalitionsverhandlungen mit der CDU waren andere Themen wohl wichtiger.

Die Partei der Vernunft

Ihr müsst endlich verstehen, was die SPD von anderen linken Parteien und Organisationen unterscheidet. Während die linken Träumer eine völlig utopische Welt fordern, bleibt die SPD auf dem Boden der Tatsachen. Sie ist die Partei der Vernunft. Vernunft! Ja, der Wohlstand in Deutschland ist sehr ungleich verteilt. Aber die SPD kann da gar nichts machen. Wir leben schließlich in einer globalisierten Welt. Wir konkurrieren mit anderen Standorten und müssen den Konzernen auch was bieten können. Produktivität ist die oberste Devise. Das ist genau das, was gemeinhin als "Realpolitik" bezeichnet wird und was sich die SPD auf ihre Fahnen geschrieben hat. Die Sozialdemokraten wissen halt, dass die Wirtschaft bei der Stange gehalten werden muss. Alles andere ist einfach nur unvernünftig. Der ganze Wirtschaftsstandort Deutschland verlöre in kürzester Zeit massiv an Bedeutung, wenn man es tatsächlich wagen würde, die Wohlstandsverteilung umzukrempeln.

Tatsächlich? Diese Argumentation wurde bereits in einem vergangenen Blogposting auf den Prüfstand gestellt. Produktivität und Anreize sind demnac mit sozialen Reformen absolut zu vereinbaren. Es ist sicher sinnvoll bei der Frage nach Reformen auch Standortfaktoren und Anreize zu berücksichtigen . Aber mit diesen Fragen beschäftigt sich die SPD offensichtlich nicht (mehr). Der SPD fehlt schlicht der Mut und die Kreativität Wege zu finden, mit denen soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden kann, ohne dass vorher die global existierende Marktwirtschaft überwunden werden muss. Die SPD scheint insoweit einfach zu vernünftig zu sein für sozial Gerechtigkeit. Oder eher mutlos und ängstlich. Sie ziert sich vor sozialen Reformen wie ein Kleinkind vor der Badewanne. Ja, klar – die SPD hat sich für die Einführung des Mindestlohns eingesetzt. Mit einigen Jahren Verspätung und lange nachdem etwa die Linkspartei selbiges gefordert hatte. Eine vernünftige Wohlstandsverteilung wird es hierdurch aber noch lange nicht geben.

Oft hört man den Satz, die CDU mache heute sozialdemokratische Politik. Das ist ein Irrtum. Nicht die CDU macht sozialdemokratische Politik, sondern umgekehrt macht die SPD – mit Blick auf die oben genannten Maßnahmen – eine „christdemokratische", also konservative und wirtschaftsfreundliche Politik. Ihre Reformen stehen weitgehend in einer Linie mit der Politik der Union. Die Tragik an der SPD ist darin zu sehen, dass sie mit ihrer langen Tradition als die Arbeiterpartei schlechthin wahrgenommen wird. Sie besetzt soziale Themen, ohne diese im Kern anzupacken. Die SPD kann leider für jeden, der sozialen Fortschritt will, eigentlich nur als politischer Feind angesehen werden.

Johannes Kahrs, ein sympathischer Mann

Die Frage nach einem möglicherweise fehlenden politischen Willen der SPD zu sozialen Reformen könnte man sich mit Blick auf den Seeheimer Kreis durchaus stellen. Der konservative Flügel der SPD wird geleitet von Johannes Kahrs, der bis heute zudem einen ernormen Einfluss auf die Hamburger Jusos ausübt und sinnbildlich ist für den von Schröder in den 90er Jahren eingeschlagenen Kurs. Bei Johannes Kahrs handelt es sich wirklich um einen sehr sympathischer Politiker. Nachdem Nahles zur Generalsekretärin gewählt wurde und Müntefering aus dem Parteivorstand zurücktrat, sprach Kahrs von einem "Dolchstoß". Kahrs organisiert immer wieder große Spenden der Rüstungsindustrie an seinen SPD Bezirk. Gleichzeitig sitzt er im Verteidigungsausschusses des Bundestags. In der Wirtschaft nennt man so etwas Bestechung. Kahrs steht im engen Kontakt zur Rüstungsindustrie und war der einzige SPD-Politiker, der am 8. Juli 2011 gegen den Antrag Keine Genehmigung zur Lieferung von Kriegswaffen an Saudi-Arabien gestimmt hat. Zu seinen Juso Zeiten wurde Kahrs der Belästigung einer innerparteilichen Konkurrentin durch nächtliche anonyme Telefonanrufe überführt. "Ich krieg' dich, du Schlampe", drohte Kahrs, der offensichtlich nicht mit dem Einsatz einer Fangschaltung gerechnet hatte. Kahrs Karriere bei der SPD hat das nicht beeinträchtigt. Er wurde 1998 Abgeordneter des Deutschen Bundestags und Sprecher des Seeheimer Kreises, einer der einflussreichsten politischen Strömungen innerhalb der SPD. Die innerparteiliche Konkurrentin trat infolge ausbleibender Konsequenzen aus der SPD aus. Dieser Mann ist sinnbildlich für Teile der SPD, die sich nicht der sozialistischen Demokratie verschrieben haben, sondern einem neoliberalen Deutschland. Johannes Kahrs könnte genauso gut in der CDU sein Unwesen treiben. Wahrscheinlich wäre er als junger Mann in die CDU eingetreten, wenn sie in der entsprechenden Zeit in Hamburg an der Macht gewesen wäre. Kahrs steht für Politik gegen Spenden und schert sich nicht um moralische Bedenken hinsichtlich der Auslieferung von Panzern an ein diktatorisches Regime in Saudi-Arabien. Was soll man also schon von einer Partei halten, die einen Johannes Kahrs in den Bundestag entsendet und ihn zum Vorsitzenden einer der bedeutsamsten innerparteilichen Strömungen – dem Seeheimer Kreis – wählt? Natürlich existiert auch ein linker Flügel innerhalb der SPD. Jedoch sind erstens ihre Forderungen und Ideen nicht besonders weitgehend und oft eher mutlos, zweitens setzen sich die Parteilinken innerhalb der SPD ungefähr so oft durch wie staatliche deutsche Großbauvorhaben ihr Budget einhalten, also ungefähr nie. Nicht verwunderlich, wenn man sich die Austrittswellen von Parteilinken infolge der HARTZ Reformen in Erinnerung ruft.

Alternativen

Die SPD vermag Linke mangels sozialer Reformbemühungen nicht zu überzeugen. Wie sieht es aus mit Alternativen? Die Grünen haben sich zunächst an den genialen Sozialreformen unter Schröder mitbeteiligt. Die linken Politiker der Grünen wie Trittin oder Künast, denen man eine gute linke Politik trotzdem noch zugetraut hätte, wurden mittlerweile abgelöst von so genannten „Realos" wie Kretschmann oder Özdemir. Leute wie Boris Palmer haben gute Chancen mittelfristig in die Bundesspitze vorzudringen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. Die Linkspartei ist derweil zerstritten und mitunter nur schwer zu berechnen. Alle denjenigen, die sich für soziale Reformen auf dem Boden unseres Grundgesetzes einsetzen wollen, ohne vorher den weltweit existierenden Kapitalismus überwinden zu müssen, bleibt keine besonders große Auswahlmöglichkeit. Bei diesem Klientel geht mit Sicherheit viel Potential verloren.

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